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FBW-Bewertung: Die Sprache des Herzens - Das Leben der Marie Heurtin (2014)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Wie ist es, in der Dunkelheit und in der Stille zu leben? Das ist die entscheidende Frage, die dieser Film stellt. Die Geschichte ist historisch belegt: Ein Mann auf einer Kutsche bringt ein junges Mädchen namens Marie in ein Kloster, sucht dort für sie Betreuung, denn sie ist taub, wie viele anderen Mädchen, die im Internat betreut werden. Doch sie ist nicht nur taub, sondern dazu noch blind. Die Oberin lehnt ab, ihr Internat erscheint ihr nicht in der Lage, das Mädchen aufzunehmen, denn Blinde bedürfen einer anderen Zuwendung. Doch eine der Nonnen, Marguerite, selbst unheilbar krank, erkennt die Notlage Maries und ihrer Eltern. Sie setzt sich mit Erfolg gegen die Vorbehalte der Mutter Oberin durch und will Marie aus der Dunkelheit ihres Daseins holen.
Der Zuschauer erlebt nun, wie Marguerite versucht, Marie näher zu kommen, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie alltägliche Dinge zu lehren. Denn bis dahin war Marie wie ein kleines, wildes Tier, das sich angesichts von Schwierigkeiten, die ihren Alltag bestimmten, auf Bäume flüchtete.
Der Regisseur zeigt in seiner Inszenierung einen sehr feinen Humor. So sehen wir Schwester Marguerite im Ornat beim Erklettern eines Baumes, auf den sich Marie geflüchtet hat. Der Baum ist umringt von allen Nonnen und auch Schülerinnen beobachten die ungewohnte Szene, die damit endet, dass beide vom Baum fallen wie reife Früchte undins Gras kullern, unter dem Gelächter der Umstehenden.
Die Erziehung Maries zu einem akzeptierten Mitglied der Gemeinschaft stellt sich für Marguerite als Sisyphos-Aufgabe dar und wir erleben den Erfolg ihrer Bemühungen als Zuschauer dank der einfühlsamen Regie ähnlich intensiv wie die beiden Protagonistinnen. Die nicht endende Geduld und Hingabe, die Marguerite Marie gegenüber zeigt, führt endlich zum Erfolg. Nun ist der Bann gebrochen, aus dem wilden Mädchen ? die Situation lässt Erinnerungen an Truffauts WOLFSJUNGE wach werden ? wird eine lernbegierige Klosterschülerin, die ihren Eltern stolz ihr erworbenes Wissen präsentieren darf.
Diese historische Begebenheit, authentisch überliefert vom Ende des 19. Jahrhunderts, wird hingebungsvoll und mit starken, adäquaten Mitteln erzählt, welche dem Film seine eigene Prägung geben. Die Tonebene spielt dabei eine ebenso große Rolle wie die Bilder selbst. Neben sparsam eingesetzten Musikuntermalungen, die sich niemals aufdrängen, erleben wir das Ringen um die Menschwerdung Maries in absoluter Stille, nur von Originaltönen und gelegentlichem Flüstern von Marguerite begleitet. Dieser bewusst gewählte Effekt lässt die Dramatik der Situation nachempfinden, nimmt den Zuschauer mit in die stumme Welt eines tauben Mädchens. Die Bilder zeigen eine grüne, üppige Natur, die Maries Einschränkung zu unterstreichen versteht. Die Inszenierung beschränkt sich auf wenige Innenaufnahmen wie dem Speisesaal oder derKammer von Marguerite und Marie.
Die Gemeinschaft der Klosterschwestern wird ebenfalls auf schöne Weise anschaulich gemacht. Marguerite, die in Marie ?die Tochter meiner Seele? und ?das Licht meines Lebens? gefunden hat, sieht ihre Erfüllung in der Hingabe für Maries Entwicklung. Auchdie komischen Situationen, die dabei entstehen, bindet die Regie gekonnt in den Erzählfluss ein.
Tempo und Rhythmus des Films werden bestimmt durch den Verlauf der Geschichte von Marie und Marguerite. Seine Botschaft, die genau so intensiv wie die filmischen Mittel vermittelt wird, lautet: nicht zurückzuschrecken vor großen Herausforderungen, sich nicht zu fürchten vor Einsamkeit, Krankheit, dem Tod. Und die Besonderheit zu akzeptieren, die jeden Einzelnen von uns ausmacht.: Weiter hervorzuheben sind die hervorragende Kameraarbeit, die großartige Montage und natürlich die hervorragend ausgewählten und geführten Darstellerinnen,
Die Intensität dieses Films wird mit sparsamen, angemessenen Mitteln erreicht. Sein Appell an die Gesellschaft, die Menschen in der Dunkelheit und in der Stille nicht zu vergessen, macht ihn einzigartig und sehenswert. Es bleibt zu wünschen, dasser im Kino von möglichst vielen Menschen entdeckt wird.



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