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FBW-Bewertung: Im Westen nichts Neues (2022)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Vor einigen Jahren noch führte Remarques IM WESTEN NICHTS NEUES den Kanon der Literatur wieder den Krieg quasi an, mittlerweile aber zeigt sich der Roman tatsächlich ein wenig ?outdated?. Ähnlich die Verfilmungen. Lewis Milestones Schwarz-Weiß-Drama aus dem Jahr 1930 war ein echter Meilenstein pazifistischer Filme, der sogar Delbert Manns gleichnamiges Remake fast 40 Jahre später hat blass aussehen lassen. Aber nicht zuletzt dadurch stellt sich die Frage, warum der Roman jetzt abermals verfilmt werden musste.

Auf die Frage, wie wichtig Kriegs- bzw. Antikriegsfilme noch immer sind, gibt es vielerlei Antworten. Die pragmatischste liefert der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Andere Lösungen liefert Edward Bergers Film selbst, der ein eigentlich betagt wirkendes Sujet genial in die Moderne rettet und seine Zielgruppe nicht aus den Augen verliert. Die Jury äußerte sich in der Diskussion positiv überrascht von der Ästhetik dieser Verfilmung. Die Adaption aus dem Jahr 2022 zeigt sich inhaltlich, aber auch in der formalen Gestaltung modernisiert. Ganz offensichtlich hat sich Berger von der Ästhetik der Graphic Novels inspirieren lassen und das hat dem Film tatsächlich gut getan. Die Bilderwelt des Films ist von Beginn an genauso betörend wie verstörend. Berger und seine Drehbuchautoren verstehen es, mit den Qualitäten des Mediums Film zu spielen, sie neu zu interpretieren und in Hinsicht auf den Inhalt voll auszuschöpfen. Mit reduzierter Farbpalette und wenig standardisierten, beinahe intuitiven Wechseln zwischen bis ins Makabre gehenden Details und großartigen Panoramen, mit einem guten Sinn für Timing zwischen superschnellen Schnitten bis zu quälend langsamen Einstellungen, darf IM WESTEN NICHTS NEUES als technisch durchaus außergewöhnlich betrachtet werden. Und auch mit dem Score geht IM WESTEN NICHTS NEUES neue Wege. Die Verfilmung überrascht mit einer sehr überlegt gewählten Mischung aus Minimal Music und Musique Concrète, psychosensuelle Klänge gepaart mit absoluter Stille, die die bisweilen derben visuellen Eindrücke zu tragen vermögen.

Ja, Bergers AUS DEM WESTEN NICHTS NEUES vermittelt grafische Gewalt und das, so die Jury, ist sogar gut. Was für unsere Sehgewohnheiten bisweilen wie eine Zumutung wirkt, ist oftmals unseren medialen Gewohnheiten geschuldet. Allzu häufig blenden Kriegs- und Antikriegsfilme das Leid und das Elend einfach aus, obwohl es allen Kriegen tatsächlich impliziert ist. Zu oft arbeiten sogar Nachrichtenformate lediglich mit Statistiken und nackten Zahlen, wenn es um Tod, Schrecken und Verderben des Kriegs geht. Das ist Feldherrenmentlität und das ist auch, was Propaganda macht: den Fokus vom Schicksal einzelner Teilhabender auf das Große und Ganze zu lenken (und tatsächlich geht der Film hier den explizit anderen Weg, wenn er 40.000 Gefallene in der Statistik der Generalität, in der darauffolgenden Szene mit dem Schicksal von 60 durch Gas umgekommenen Kindern drastisch konterkariert). In diesem Sinne versteht die Jury IM WESTEN NICHTS NEUES als einen intensiven Meta-Reflex auf bekannte Kriegsfilme, als ein Combat Movie, das sich allerdings der üblichen Abstumpfung und dem Genuss der Kriegsverherrlichung versagt.
Bergers IM WESTEN NICHTS NEUES ist keine Literaturverfilmung, die sich sklavisch an die Vorlage hält. Berger nimmt sich die Freiheit, die literarischen Qualitäten der Vorlage ins filmische zu transferieren. Dadurch ist ein Film entstanden, der in seiner ursprünglichen Expressivität dem Buch kein bisschen nachsteht. Trotz, oder vielmehr wegen seiner Drastik glaubt die Jury, dass sich Bergers Verfilmung wegen seines Erkenntnisgewinns hervorragend im Geschichtsunterricht der Oberstufe eingesetzt werden kann. Hierfür sprechen auch die, in der Buchvorlage so nicht enthaltenen, Szenen zum Waffenstillstand von Compiègne. Wegen der bereits angesprochenen inhaltlichen Abweichungen zum Original, aber auch wegen der fehlenden poetischen Dimension versagt sich diese Verfilmung jedoch dem Einsatz als reine Literaturverfilmung.

Wesentlich kontroverser hat die Jury dagegen über die Länge des Films diskutiert, ohne zu einem wirklich abschließenden Ergebnis kommen zu können. Zweieinhalb Stunden Lauflänge erscheinen ihr definitiv rekordverdächtig und angesichts des drastischen Themas und der aufreibenden Dramaturgie in vielerlei Hinsicht ein starkes Stück. Andererseits aber gibt die Jury zu bedenken, dass die Form den Inhalt unterstützt und die die quälende Länge auch dazu beiträgt, die Qual der Soldaten zu begreifen.

Auch die Standpunkte der Jury hinsichtlich Besetzung und Schauspielführung divergierten zunächst stark. Tatsächlich ist IM WESTEN NICHTS NEUES durchaus gut besetzt. Allerdings entwickelt keiner der Darsteller (insbesondere der blass erscheinende Felix Kammerer als Paul Bäumer) wirklich superintensive Momente. Andererseits gibt die Jury zu bedenken, dass der Film mit jeder Sekunde begreifbarer macht, dass Soldaten keine Heroen mit einer Mission sind, keine Kriegsikonen, sondern einfache Bausteine einer kalten Kriegsmaschinerie. Und tatsächlich sind Paul Bäumer und seine Freunde nicht mehr als Spielbälle in einem eskalierten, geschichtlichen Ereignis, unfertige Teilhaber an einem epochemachenden, folgeschweren Ereignis. Filmisches Heldentum kann dagegen kaum der Realität des Kriegs entsprechen. So gesehen gibt die Jury zu bedenken, dass ihr ihre Kritik, bei einem an sich herausragenden Film, eher als Kritik auf hohem Niveau erscheint denn als wirkliche Einschränkung.

Die Trostlosigkeit jeden Krieges, aber auch die Ratlosigkeit des Ersten Weltkriegs, hätte vermutlich kaum besser inszeniert werden können als mit Edward Bergers Neuverfilmung von IM WESTEN NICHTS NEUES. Die imposante Verfilmung des Romans richtet sich besonders an ein jüngeres Publikum und wird es, da ist sich die Jury sicher, auch erreichen. Mit eindrucksvoller Authentizität, außerordentlich gelungenen Szenen, durchweg glaubhaften Charakteren und einem richtungsweisenden Einsatz dramaturgischer Elemente hat der Film einen so tiefgreifenden Eindruck bei der Jury hinterlassen, dass sie ihm gerne das Prädikat BESONDERS WERTVOLL verleiht.



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