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FBW-Bewertung: Toni Erdmann (2016)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Winfried, pensionierter Musiklehrer mit Hang zu skurrilen Scherzen, lebt allein mit seinem alten Hund in der deutschen Provinz. Seine Tochter Ines hat es in die große Welt geschafft. Als erfolgreiche Unternehmensberaterin arbeitet sie in Bukarest, demnächst vielleicht in Shanghai. Sie sehen sich selten. Zu sagen haben sie sich nicht viel, denn auch bei ihren seltenen Treffen hängt Ines nur am Telefon. Winfried fragt sich, ob sie wirklich glücklich ist. Undnachdem sein Hund gestorben und sein letzter Musikschüler ihn verlassen hat, beschließt er, nach dem Rechten zu sehen und seine Tochter in Bukarest mit einem Besuch zu überraschen. Aber auch hier wimmelt Ines ihn ständig ab oder schleppt ihn widerwillig mit zu Geschäftsterminen. Der Besuch istein einziges Missverständnis, ein Glück, dass Winfried nach dem Wochenende wieder abreist ? allerdings nur, um als sein Alter Ego Toni Erdmann sogleich wieder aufzutauchen. Mit hervorstehendem Gebiss und wilder schwarzer Perücke mischt er sich hartnäckig und nonchalant in das Geschäfts- undPrivatleben seiner Tochter ein und bringt mit seiner unberechenbaren Art und seinem Charisma die Verhältnisse zum Tanzen.

Die Jury fragte sich zunächst, wie sie unbefangen einen Film bewerten solle, der mit so viel Lob und Erwartungen befrachtet sei, von dem man so viel gehört, gelesen und (zumindest in Ausschnitten) gesehen habe, wie bei TONI ERDMANN. Aber schnell weichen die Bedenken einer einhelliger Begeisterung: Jurymitglieder, die denFilm zum ersten Mal gesehen haben, fühlen sich in ihren Erwartungen nicht enttäuscht, und Jurymitglieder, die ihn zum zweiten Mal gesehen haben, fühlen sich bestätigt und sind erfreut, dass sie beim zweiten Mal auf andere Dinge geachtet und neue Sichtweisen gewonnen haben. Standen bei der ersten Sichtung (und auch in der Vorab-Berichterstattung) eher die skurrilen Figuren und Situationen im Mittelpunkt, so konzentrierte sich der Blick beim zweiten Mal stärker auf die emotionalen und gesellschaftskritischen Elemente. Trotz der beachtlichen Länge von 162 Minuten und der ungewöhnlichen Erzählweise, die gängigen dramaturgischen Erwartungen widerspricht, hat sich die Jury keinen Moment gelangweilt und ist beeindruckt von der Kompromisslosigkeit der Regisseurin Maren Ade und ihrem Wagemut, dem Publikum mehr als normal zuzumuten.

Die Balance zwischen Humor und Ernsthaftigkeit ist gut gehalten in einer Tragikomödie mit melancholischem Unterton um einen Vater, der fintenreich darum kämpft, den emotionalen Zugang zu seiner Tochter wieder herzustellen, und einer Tochter, die sich mit allen Mitteln gegen den Kontrollverlust wehrt. Je heftiger sich ihr Schlagabtausch gestaltet, desto näher kommen sie sich.Je haariger der Vater mit Zottelperücke und traditionellem Kukeri-Kostüm daher kommt, desto mehr wird die Tochter entblättert ? bis hin zur völligen Nacktheit. Das gereicht ihr aber nicht zum Nachteil, denn das Erstaunliche an diesem Film ist, dass keine Figur diskreditiert wird. Der Vater istpeinlich, die Tochter ist nervig, aber in gewisser Weise teilen sie einen Sinn für Humor und eine trotzige Widerständigkeit. So besteht eine Bindung zwischen ihnen, die über das offene Ende hinaus hoffen lässt.

Gleichzeitig erlaubt der Film einen kritischen Blick hinter die Kulissen des globalen Consulting-Gewerbes. Während der erste Teil in der abgeschotteten, künstlichen Welt der Hotel- und Firmenkomplexe spielt, deren Protagonisten sich in Taxis zwischen Empfängen und Wellness-Centern bewegen, wird er im zweiten Teil dokumentarischer und führt hinaus ins wirkliche Leben. Beim Ausflug aufs Land und der Begegnung mit Menschen, die von den Umstrukturierungen durch Ines? Firma betroffen sein werden, aber auch beim Besuch der gutbürgerlichen Großfamilie, die Vater und Tochter an ihren Ostervorbereitungen teilhaben lässt, öffnet er sich der rumänischen Realität. Das entspricht der Intention des Vaters, die Tochter aus ihrer Scheinwelt zu befreien und (wieder) das wahre Leben spüren zu lassen.

Der Film ist eine beeindruckende schauspielerische Tour de Force von Sandra Hüller und Peter Simonischek, präzise konzipiert und inszeniert von Maren Ade mit einer Kamera, die dicht an den Protagonisten ist und einem Schnitt, der einen Moment länger als notwendig auf ihren Gesichtern verharrt und Emotionen und Irritationen nachwirken lässt. TONI ERDMANN ist ein Film, über den man Tränen lachen kann und der gleichzeitig viele Aspekte bietet, über die man nachdenken kann. Es ist ein Film für ein entdeckungsfreudiges Publikum, das Lust hat, auf allerlei Abwege und Umwege geführt zu werden und sich dabei immer wieder überraschen zu lassen.



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