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FBW-Bewertung: Nebel im August (2016)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Stolze 138 Minuten gilt es auszuhalten, aber Kai Wessels Opus Magnus NEBEL IM AUGUST ist so tiefschürfend und ergreifend, dass die Jury diese Zeitspanne kaum bemerkt hat. NEBEL IM AUGUST wurde inszeniert nach Motiven des gleichnamigen Tatsachenromans von Robert Domes. Der Film erzählt die Geschichte des 13jährigen Ernst Lossa. Der kerngesunde Junge gilt im nationalsozialistischen Deutschland als schwer erziehbar und wird 1942 in eine psychiatrische NS-Einrichtung eingewiesen. Nur zwei Jahre darauf wird er im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms ermordet.
In der der Sichtung angeschlossenen Diskussion zeigte sich die Juryüberrascht von der Authentizität des Films.
Indem NEBEL IM AUGUST das gnadenlose Eindringen der Täter in die wenige, verbliebene Privatheit der Patienten in den Blickwinkel rückt, kann der Film auf ganz subtile Weise die Perfidie des NS-Systems deutlich machen. Er führt den Zuschauern vor Augen, dass es kein Entkommen in einer totalitären Gesellschaft gibt, in der Eines ins Andere greift und an dessen Ende der perfekte Todesengel, in Gestalt einer Krankenschwester aus Hadamar, lauert. Sie kommt, um die, für die es keine Verwendung gibt, zu ermorden.
Dass auch Ernst Lossa diesen Weg gehen wird, war der Jury zwar relativ früh bewusst, dennoch hat sie ? und auch das zeigt die Qualität des Films ? bis zum Schluss gehofft, dass sich sein Schicksal wenden wird.
Wirklich durchdacht und dramaturgisch clever gemacht zeigt NEBEL IM AUGUST alle Ebenen von Schuld und Mitschuld, bis hin zur fragwürdigen Rolle des Vatikans. Wessels Inszenierung vermag, dass sich Zuschauer beinahe gleichzeitig von der Vergangenheit distanzieren und dennoch als Teil des Systems begreifen müssen.
Einen Teil dieses Erlebnisses führt die Jury auf eine sensible Dramaturgie und Inszenierung zurück, auf eine eindrucksvolle Kamera und erstaunlich ruhige Bilder. Sie balancieren ? genau wie der erstklassige Score ? lange auf der Grenze zwischen gut und böse, Freude und Schrecken und Traum und Alptraum, bevor sie unabwendbar scheinende Ereignisse mit aller Macht dokumentieren. Hier steht der Film in keiner Weise der Dramaturgie des Buches nach, im Gegenteil, selten hat die Jury einen Film erlebt, der so glaubwürdig die Subtilität des Schreckens auf die Leinwand zu bannen versteht, wie NEBEL IM AUGUST.
Einen Grund dafür sieht die Jury auch in der Besetzung. Wider besseres Wissen vermag Sebastian Koch, als Anstaltsleiter Veithausen, dem Zuschauer suggerieren, sein Charakter sei ein guter Mensch, bis er mit großer Entschlossenheit sein wahres Ich zu erkennen gibt. Mit Erstaunen bemerkte die Jury, wie sympathischein so perfider Mensch wirken kann und erkannte darin den Schrecken dieses Charakters.
Der 13jährige Ivo Pietzker als Ernst Lossa steht Koch schauspielerisch indes in keiner Weise nach. Mit glaubwürdiger Sicherheit kann er eine rasche, plausible Wende vollziehen, vom schwer erziehbaren Streuner hin zum hilfreichen, aufrechten Helden, der für seine Überzeugung in den Tod gehen wird.
Nicht nur wegen seiner unkonventionellen Dramaturgie, seiner hervorragenden Besetzung und seiner historischen Dimension erscheint der Jury NEBEL IM AUGUST besonders wichtig, sondern auch wegen der, auch heutzutage immer wieder gemachten, Kostenrechnungen im Gesundheitssystem. Weil sich NEBEL IM AUGUST in vielerlei Hinsicht von der Masse des Genres positiv abhebt und sich weiterhin für eine gezielte Vergangenheitsbewältigung und für Verantwortung und Fürsorgepflicht ausspricht, spricht die Jury dem Film einstimmig das Prädikat ?besonders wertvoll? zu.



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