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FBW-Bewertung: Deutschstunde (2019)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Deutschland kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. In einer Jugendstrafanstalt sollen die Insassen einen Aufsatz schreiben zum Thema?Die Freuden der Pflicht?. Der junge Siggi Jepsen bringt kein Wort zu Papier. Zur Strafe wird er in eine Zelle gesteckt, wo er in den folgenden Monaten wie besessen Heft um Heft füllt mit den Erinnerungen an seine Kindheit in den Kriegsjahren. Sie sind geprägt durch seinen Vater, den Polizisten Jens Ole Jepsen, die absolute Autorität in dem kleinen Dorf am norddeutschen Wattenmeer, der die Pflichten seines Amtes und die Treue zu seinem Dienstherrn im fernen Berlin über alles stellt. Als die Nationalsozialisten ein Malverbot gegen seinen Jugendfreund, den expressionistischen Maler Max Ludwig Nansen, verhängen, lässt er keinen Zweifel daran, dass er es strikt durchsetzen und penibel überwachen wird. Dazu benutzt er auch seinen damals 11-jährigen Sohn Siggi, der den Maler ausspionieren soll. Doch Nansen widersetzt sich, malt weiter und setzt dabei ebenso auf die Unterstützung von Siggi, der sein Patensohn ist. Fortan steht der Junge zwischen den beiden Männern, deren Konflikt sich immer weiter zuspitzt. Anpassung oder Widerstand ? diese Frage wird für Siggi entscheidend.

50 Jahren nach dem Erscheinen des Romans von Siegfried Lenzüber Schuld und Pflicht in der Zeit des Nationalsozialismus hat sich Christian Schwochow an eine Neuverfilmung gewagt. Dabei ist ihm nach einem Drehbuch seiner Mutter Heide Schwochow ein atmosphärisch dichtes und kraftvolles Werk gelungen, das den Widerspruch zwischen Pflichterfüllung und individueller Verantwortung klar herausarbeitet und sehr aktuell an heutige Zuschauer appelliert, Stellung zu beziehen.

In der kleinen Gemeinschaft auf dem Lande, weit abgelegen von der nächsten Kreisstadt und den Zentren der Macht, wo jeder jeden kennt und jeder einzelne eine Ausnahme hätte machen können, sind die Figuren gefangen in ihren Vorstellungen von Zwang und Pflicht. Isoliert und abgeschieden liegen die Häuser in der grauen Wattlandschaft, über der dunkle Wolken hängen und immer wieder Schauer niedergehen. Sie verspricht keine Freiheit, sondern die Enge des Denkens spiegelt sich in den niedrigen, düsteren Innenräumen des Polizeipostens, der auch Wohnstatt der Familie Jepsen ist. Hier herrscht eine enge, gedrückte Atmosphäre, während es im Hause des MalersNansen eher großzügig und städtisch zugeht.

Grundlage des Films ist ein starkes Drehbuch, das zwar mehrere Stränge verfolgt und viele dramatische Höhepunkte aufweist, den Grundkonflikt aber nie aus den Augen verliert und ihm stets weitere Facetten hinzufügt. Dazu gehören die Geschichten der älteren Geschwister, die sich den Ansprüchen des Vaters entziehen, wie die Schwester, die dem Maler Modell stehtund eine Anstellung in der Kreisstadt antritt, oder der Bruder, der wider Erwarten kein Kriegsheld, sondern desertiert ist und verzweifelt ? und vergebens ? im Elternhaus Schutz sucht.

Die Inszenierung ist bewusst minimalistisch gehalten und arbeitet das Vater-Sohn-Verhältnis streng und klar heraus. Dafür hat die Regie symbolträchtige Bilder und Szenen gefunden, die an keiner Stelle klischeeartig oder überladen wirken. Dialoge und Gesten sind äußerst reduziert, die großen Konflikte spielen sich eher unterschwellig ab. Dennoch durchziehen Ambivalenz und Bedrohung den ganzen Film, jederzeit kann die Stimmung umschlagen. Das ist ein Verdienst des großartigen Schauspielensembles, das angeführt wird von Tom Gronau und Levi Eisenblätter, die Siggi als Jungen und jungen Erwachsenen darstellen, sowie Ulrich Noethen und Tobias Moretti, die als strenger, dominanter Vater und trotzig-verzweifelter Maler die Gegenpole darstellen. Maria Dragus und Louis Hofmann als ältere Geschwister, Sonja Richter als Mutter und Johanna Wokalek als Malergattin verleihen den Figuren am Rande glaubhafte Charaktere.

Szenenbild und Kostüme sind herausragend und authentisch gestaltet und kommen in einer ausgefeilten Licht-Schatten-Dramaturgie optimal zur Geltung. Die Kamera fängt die Landschaft in ruhigen, gleitenden Breitwandbildern ein, die in abgestuften Grautönen gehalten sind, in denen nur die kräftigen Farben von NansensGemälden herausstechen. Auf der Tonebene überzeugt ein hervorragendes Sounddesign, das Musik mit Naturgeräuschen ebenbürtig verbindet und bedrohliche oder beklemmende Stimmungen unterstreicht.

So ist DEUTSCHSTUNDE ein in jeder Hinsichtüberzeugender und wichtiger Film, der auch 50 Jahre nach Erscheinen des Romans in eindringlicher Weise die Frage nach den Grenzen der Pflicht und der individuellen Verantwortung stellt.



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