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FBW-Bewertung: Der vermessene Mensch (2021)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Die Jury hat sich gleich zu Beginn der Diskussion mit der Frage beschäftigt, inwieweit der Blickwinkel auf die deutsche Kolonialzeit mit ihren Verbrechen unter heutigen Gesichtspunkten angemessen sein kann.

Hierzu gab es eine große Übereinstimmung, dass, gerade weil der Film konsequent mit dem jungen Ethnologen Alexander Hoffmann den europäischen und damit kolonialistischen Blickwinkel einnimmt, der Gegenblick der Hereros und Nama nicht vernachlässigt wird, sondern tatsächlich nicht das Thema des Films ist. Vielmehr eröffnet DER VERMESSENE MENSCH die viel direktere Kritik und Auseinandersetzung mit rassistischem Denken vom 19. Jahrhundert bis in den Vorabend der Nazidiktatur hinein. Ein Film aus Sicht der Genozid-Opfer und die Beleuchtung der südwestafrikanischen schwarzen Bevölkerung und deren Kultur führten definitiv zu einem ebenfalls wichtigen, aber eben anderem Film.

Die Jury war der Ansicht, dass es Lars Kraume trotz der Schilderung aus weißer Perspektive darüber hinaus gelungen ist, dem unfassbaren Grauen insbesondere des kolonialen Vernichtungskrieg gegen die Hereros und Nama in Bildern Ausdruck zu verleihen. In sicher nachhaltiger Erinnerung bleiben beispielsweise die Bilder gegen Ende, die das Vorbereiten der Köpfe hingerichteter Herero für den Abtransport in ethnologische und anthropologische Staatssammlungen in Berlin zeigen. Die zweite Hauptdarstellerin des Films ? die Schwarze Girley Charlene Jazama als Kezia - wird hier eine zentrale Rolle spielen.

Neben der schonungslosen Darstellung von Massakern und Massenmord tritt aber auch die große Würde in Erscheinung, die Kraume in seiner Darstellung Vertretern der Herero verleiht. Das ist für die Jury exemplarisch in einer Szene besonders gelungen: Als eine Gruppe von Herero in einer Völkerschau in Berlin als 'Wilde' gezeigt wird, besucht sie abends der junge Ethnologe Hoffmann in ihrer Unterkunft. Er, der selbst , so wie er im Film sagt, nicht an das rassistische Menschenbild von weißer Herrenrasse und ?Wilden? glaubt, sondern aufklärerisch ?im Geiste Humboldts? nur an kulturelle Unterschiede, verfällt automatisch in die Rolle des Fordernden ('wissenschaftliche Fragen stellen'). Sofort weist ihn elegant und selbstbewusst die schwarze Dolmetscherin Kezia darauf hin, dass er hier unter den - übrigens europäisch gekleideten - Herero nicht Herr, sondern Gast sei, und nur auf dieser Ebene sei eine Kommunikation überhaupt möglich. Er wird aber - und hier erreicht der Film eine weitere wunderbare Vielschichtigkeit - zum selbstverständlich gespielten, europäischen Kartenspiel 'Siebzehn und Vier' eingeladen.

Eine der frühen Hauptszenen des Films ist die Schädelvermessung der als Delegation angekommen Herero in Berlin durch Ethnologiestudenten. In dieser Szene mischen sich die Vermessenheit des europäischen Überlegenheitsdenkens, völlige Insensibilität, Demütigung - und im Falle Alexander Hoffmanns auch erotisches Begehren gegenüber Kezia. Auch diese Szene ist meisterhaft aufgebaut, um das komplexe Thema komprimiert einzufangen.

Gelobt werden muss auch der Mut, in Alexander Hoffmann einen jungen idealistischen Menschen als Hauptfigur zu haben, der zunehmend selbst Blut an den Händen hat und dessen Ehrgeiz und Desillusionierung ihn wider besseren Wissen zum charakterlosen Opportunisten des rassistischen Zeitgeists machen. Es ist - neben der rassistischen Gewalt - diese Abwärtsbewegung, die den Zuschauer tief erschüttert und zum Nachdenken zwingt. Dass Zeitsprünge des Films von 1896 über den Schwerpunkt des kolonialen Vernichtungskrieges 1906 bis einem kurzen Schlussausblick in die 1920er Jahre führen, weist als weiterführender Aspekt auf den folgenden Holocaust hin und lässt die Linie weiterdenken bis in unsere Gegenwart: Zu Fragen der Rückgabe von kolonialer Beutekunst und Kulturgegenständen bis hin zu Schädeln und Skeletten aus ethnologischen Sammlungen, um sie - ein weiteres Thema des Filmes - den Riten entsprechend zu bestatten und Würde und religiöse Heimat zurückzugeben.

Bei aller inhaltlichen Auseinandersetzung ist nach Meinung der Jury den Filmemachern um Lars Kraume auch handwerklich und künstlerisch ein guter Film gelungen. Die Filmmusik ist unaufdringlich intensiv, die Ausstattung detailliert gelungen und der Cast treffend:

Angefangen von Leonard Scheicher als eigentlich sensibler, feingliedriger Ethnologe Alexander Hoffmann über Girley Charlene Jazama, die der Figur der Kezia alle Facetten von Würde bis zur völligen inneren Zerstörung und Zerrüttung geben kann bis hin zu den Nebenfiguren wie Peter Simonischek als Professor, der in den Zynismus abwandert und glaubt, als Wissenschaftler eine weiße Weste behalten zu können oder Alexander Radszun als General Lothar von Trotha, Inbegriff eines Militärs, der ohne spürbare menschliche Regung einen unfassbar schmutzigen Krieg führt.

Einzig dem Film selbst hätte die Jury ein etwas höheres Budget gewünscht, um Massenszenen mit mehr Komparsen gewaltiger in Szene setzen zu können.

In Abwägung aller Argumente erteilt die Jury dem Film das höchste Prädikat BESONDERS WERVOLL.






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