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FBW-Bewertung: 15 Jahre (2023)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: So konsequent kann man eine Fortsetzung konzipieren. Etwas mehr als 15 Jahre nach seinem Film VIER MINUTEN hat Chris Kraus mit 15 JAHRE eine Fortsetzung gedreht, bei der die Zeit zwischen den Filmen dem Zeitsprung zwischen den beiden Filmhandlungen entspricht. Dies hat den Vorteil, dass die Hauptdarstellerin Hannah Herzsprung real 15 Jahre älter geworden ist und so sehr authentisch die Geschichte von Jenny von Loeben weiterführen kann. Das ehemalige musikalische Wunderkind hat die 15 Jahre im Gefängnis abgesessen, weil sie die Strafe für einen Mord auf sich genommen hat, den sie gar nicht begangen hat. Nach ihrer Entlassung lebt sie in einer religiösen Therapie-Wohngruppe und arbeitet als Reinigungskraft. Durch einen damaligen Mitstudenten und Bewunderer wird sie zurück in das Musikgeschäft gezogen, und als sie zusammen mit einem einarmigen Musiker aus Syrien bei einer TV-Talentshow auftreten will, stellt sich heraus, dass deren Showmaster ihr ehemaliger Geliebter ist, der damals den Mord begangen hat, wegen dem man sie bestraft hat. An ihm will sie sich rächen, auch wenn sie so ihre Chance auf einen Neuanfang verspielt. So nacherzählt klingt die Geschichte wie eine triviale, melodramatische Kolportage. Doch Chris Kraus, der auch das Drehbuch geschrieben hat, erzählt sie emotional stimmig und mit einer großen Wahrhaftigkeit den Filmfiguren gegenüber. Hannah Herzsprung bekommt hier die Gelegenheit, die Rolle ihres Lebens noch einmal spielen zu dürfen und sie gibt ihr die gleiche Radikalität, Impulsivität und Tiefe wie in VIER MINUTEN. Jenny von Loeben ist auch hier von ihren inneren Dämonen getrieben. Sie ist eine erwachsen gewordene ?Systemsprengerin?, denn ihre Handlungen werden durch ihre extremen, schnell wechselnden Gefühle bedingt, und so ist sie unberechenbar und selbstzerstörerisch. Hannah Herzsprung lässt sich wieder ganz in diese hochkomplizierte Figur fallen und gerade weil sie nie um die Sympathien des Publikums buhlt, ist ihre Jenny von Loeben eine faszinierende und berührende Filmheldin. In Nebenerzählsträngen erzählt Kraus vom Zynismus der Kulturindustrie und davon, wie in unserer Gesellschaft mit den Schwachen und Gefallenen umgegangen wird. Und es gelingt ihm auch, all das unter einen Hut zu bringen, weil er den Film bis in die kleinsten Nebenrollen grandios besetzt hat. So spielt etwa Désirée Nosbusch eine Produzentin von Fernsehshows, die über Leichen geht und Adele Neuhauser überrascht mit ihrer einfühlsamen Darstellung der Leiterin einer christlichen Gruppe, die leicht zu einer Klischeefigur hätte werden können. Wie bei VIER MINUTEN hat Annette Focks wieder eine sehr intensive und fantasievolle Filmmusik komponiert und eingespielt, durch die das außergewöhnliche Talent und Temperament der Protagonistin auch in der Musik nicht nur behauptet wird, sondern spürbar wird.



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