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FBW-Bewertung: Die goldenen Jahre (2022)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Coming of Age Geschichten kann man auch über 65jährige erzählen. Das Schweizer Ehepaar Alice und Peter muss im Laufe von DIE GOLDENEN JAHRE lernen, sich auf einen neuen Lebensabschnitt einzustellen. Nur dies ist hier nicht das Erwachsenwerden, sondern der Ruhestand. Peter erfährt schmerzlich den Bedeutungsverlust, der mit seiner Pensionierung einhergeht (sein Büro wird der neue Server-Raum) und Alice wird durch die ständige Anwesenheit ihres Mannes, die keine Nähe, sondern eher ein gegenseitiges Erdulden ist, gezwungen, ihr Verhältnis zu ihrem Mann in Frage zu stellen. All das spielt im Milieu von wohlhabenden Schweizern, und spätestens als das Ehepaar ein Kreuzfahrtschiff besteigt, wird deutlich, dass hier auch eine Luxuswelt ausgestellt wird. So dauert es dann auch eine Weile, bis erkennbar wird, wie ernsthaft und psychologisch plausibel die Regisseurin Barbara Kulcsar und die Drehbuchautorin Petra Volpe ihre Geschichte erzählen, die auf der Bildebene zuerst eher an Produktionen wie DAS TRAUMSCHIFF erinnert. Peter stürzt sich mit Sport und (sehr) gesunder Ernährung in eine Obsession des Jungbleibens und Alice merkt, wie schal und unsinnlich ihr Eheleben geworden ist. Und so kehrt sie nach einem Landausflug in Marseille nicht auf das Schiff zurück, sondern beginnt stattdessen eine Reise im eigentlichen Sinne des Wortes. Dabei lernt sie anderen Frauen und deren Lebensentwürfe kennen, die sich völlig von ihrem unterscheiden. Diese Erfahrungen machen sie reifer. Auch Peter lernt ein Gefühl dafür zu entwickeln, was seine wirklichen Bedürfnisse sind. Erzählt wird dies in der Form einer Komödie, und dabei gibt es äußerst gelungen komische Regieeinfälle. Vor allem die Kinder von Alice und Peter werden mit ihren Reaktionen auf das Verhalten ihrer ?unwürdigen? Eltern komisch gezeichnet. Auffällig ist, wie distanziert Kulcsar zu Beginn ihre Hauptfiguren einführt. Weder Alice noch Peter sind da alles andere als Sympathieträger (Alice ist zum Beispiel so selbstbezogen, dass sie lange nicht merkt, dass ihre Freundin bei einer Wanderung wenige Meter hinter ihr stirbt). Es spricht für die Raffinesse des Drehbuchs, dass man dann durchaus starkes Interesse für die Filmfiguren und ihre Befindlichkeiten entwickelt. Und wenn Alice schließlich in einer antikapitalistischen Frauenkommune landet, kann man sich schon fragen, ob hier nicht eine subversive Filmemacherin am Werke ist, die unter anderem mit Hilfe der sonnig, beschwingten Filmmusik (eine Hommage des Komponisten Carsten Meyer an Burt Bacharach, dazu kommen einige beliebte Italo-Pop-Hits ) ein Feel-Good-Movie inszenierte, dabei aber eine Reihe von emanzipatorischen Botschaften eingeschmuggelt hat.



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