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FBW-Bewertung: Die Aussprache (2022)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Erst spät in der Geschichte wird klar, dass wir uns im Jahr 2010 befinden. So seltsam entrückt, konserviert in der Zeit wirkt die Geschichte, die Sarah Polley auf dem Heuboden einer Scheune im ländlichen Amerika erzählt. Und dies ist letztlich das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen: Basierend auf wahren Begebenheiten, geschildert in einem Roman von Miriam Toews, erzählt DIE AUSSPRACHE (viel treffender der englische Titel WOMEN TALKING) von einer mennonitischen Glaubensgemeinschaft, streng genommen den Frauen, die einer Welle von sexueller Gewalt ausgesetzt sind und deshalb eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen haben. Religiöse Ideale prallen auf den Wunsch nach einem Leben in Freiheit und Sicherheit. Es gelingt ein filmisches Plädoyer für Gleichberechtigung und Demokratie.

Alles an der Inszenierung und filmischen Gestaltung (hier besonders Kostüm, Ausstattung und Musik) wirkt unaufgeregt, dabei leisten die starken Frauenfiguren Übermenschliches. Durch den Verzicht auf jegliche Form von Effekthascherei rückt die Inszenierung ins emotionale Zentrum der Geschichte. Der Fokus liegt komplett auf den Darstellerinnen und der Geschichte ihrer Figuren. Ohne zusätzliche Dramatisierung erfährt der Zuschauende erst nach und nach die Zusammenhänge, die meiste Zeit ist man auf besagtem Heuböden dabei und wird Zeug:in einer hitzigen Diskussion. Ein Kammerspiel, aus dem es am Ende auszubrechen gilt, nimmt seinen Lauf und macht uns zu Kompliz:innen. Mit viel Respekt für die emotionale Situation der Figuren und Feingefühl für das, was man sehen muss und das, was lieber verborgen bleibt. Hier spielt sicher die weibliche Regie eine große Rolle. So bleiben die Vergewaltigungen ungesehen, Grauen und Leid sind ohnehin unaussprechlich ? und sollen der Vergangenheit angehören. So beschließt es das Komitee aus gewählten Frauen. Ein mutiger Akt der Emanzipation, des female Empowerment, das heutiger nicht sein könnte.

Eine besondere Rolle kommt dem einzigen Mann, dem Lehrer August (Ben Whishaw) zu. Er führt das Protokoll, ist anfangs stiller Beobachter, später einziger Verbündeter der rechtlosen Frauen in der abgeschiedenen Glaubensgemeinschaft. Er verkörpert die Dualität der Opfer-Täter-Beziehung, die Perversion des Systems an Unterdrückung und Machtmissbrauch, ohne aber jemals in die Perspektive der Männer zu wechseln. Die Haltung des Filmes ist hier ganz klar: Es gibt keine Entschuldigung. Andere Dinge bleiben mysteriös, was der Film aber bedenkenlos aushält: Welche Rolle spielte August bei den Übergriffen und wer ist eigentlich unsere namenlose Erzählerin?

DIE AUSSPRACHE richtet sich in seiner Machart fraglos an ein Arthouse-Publikum, das willens ist, sich der anschließenden Diskussion zu stellen. So laden gleichsam religiöse Aspekte wie demokratische Prinzipien zu einer Auseinandersetzung ein.

Die FBW-Jury zeichnet Sarah Polleys DIE AUSSPRACHE mit dem Prädikat BESONDERS WERTVOLL aus.



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