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FBW-Bewertung: Stille Post (2022)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Das Diktum ?Das erste Opfer eines Kriegs ist die Wahrheit? wurde schon im Ersten Weltkrieg geprägt und heute wirkt es angesichts von Fake News und massenhaft organisierter Falschinformation fast schon naiv und überholt. Doch der erste Schritt von der Wahrheit zur Lüge ist und bleibt ein Sündenfall, und davon erzählt Florian Hoffmann in seinem bemerkenswerten Spielfilm, dessen Titel dann auch genau passt, denn wie in dem Kinderspiel verändert sich auch hier eine Information dadurch, dass sie über verschiedene Stationen und Akteure übermittelt wird. Der Protagonist Khalil ist Kurde und hat sich im Exil in Berlin nahezu perfekt assimiliert. Er arbeitet als Grundschullehrer, und lebt zusammen mit seiner deutschen Freundin, der Journalistin Leyla. Als Leyla Kriegsvideos aus Khalils kurdischer Heimatstadt Cizre zugespielt bekommt, glaubt er auf Handyaufnahmen seine Schwester zu erkennen, von der er glaubte, dass sie vor vielen Jahren gestorben ist. Khalil will sie finden, indem er diese Aufnahmen öffentlich macht. Seine Freundin hilft ihm dabei, und verliert dabei schnell ihre professionelle Distanz. Und Khalil bringt die Situation völlig aus seinen gewohnten Bahnen. Florian Hoffmann erzählt sehr authentisch: die verschiedenen Milieus wie etwa die Nachrichtenredaktion eines Fernsehsenders, eine Berliner Grundschule oder eine kurdische Exilgemeinschaft werden so unmittelbar und detailreich wie in einem gelungenen Dokumentarfilm präsentiert und die Darsteller*innen wirken bis in die Nebenrollen hinein sehr lebendig und glaubwürdig. Da gibt es keinen falschen Ton und es ist spürbar, wie intensiv sich Hoffmann, der auch das Drehbuch verfasste, in die Materie eingearbeitet hat. So gelingt es ihm, das Lebensgefühl von Kurd*innen in Deutschland zu vermitteln, die oft unerkannt unter den Türken leben und unter deren Feindseligkeit und offen gelebter Aggression leiden. Ein erhellendes Beispiel dafür ist die Geschichte von den verräterischen Grübchen, an denen Türken glauben, Kurden erkennen zu können. Hoffmann erzählt packend und komplex. Khalil und Leyla sind mit einem liebevollen Blick als Sympathieträger gezeichnet, und umso tragischer wirkt es dann, wenn sie sich immer tiefer in ihre fehlgeleitete Kampagne verstricken. Aber auch alle anderen Charaktere zeichnet Hoffmann mit Empathie. Es gibt keine Schurken, keine Täter in diesem Film ? denn das wäre zu einfach gedacht. Hoffman urteilt nicht, er versucht zu erklären. So ist ihm ein zugleich emotional packender und kluger Film gelungen, der die Jury mit seiner erzählerischen Kraft und stilistischen Souveränität begeistert hat.



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