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FBW-Bewertung: Kilimandscharo: Diesmal mit Krücken (2022)

Prädikat wertvoll

Jurybegründung: Es sind traumhafte Aufnahmen, die Michael Scheyer vom Aufstieg zum Uhuru-Peak, dem Gipfel des Kilimandscharo mitbringt. Scheyer hat sich dem Team um Bergsteiger Thomas Lämmle angeschlossen, der den Gipfel bereits 62 Mal bezwungen hat. Das 63. Mal aber, der Titel verrät es, wird er es auf Krücken versuchen. KILIMANDSCHARO - DIESMAL MIT KRÜCKEN ist Bergsteigerfilm und Motivationshilfe zugleich.

Michael Scheyers Dokumentarfilm begleitet eine durchaus sympathische Sechsergruppe auf dem Weg zum Gipfel. Er zeigt sie bei Vorbereitungen und Training, bei Essens- und auch Schlafpausen, kurz: bei Freud und auch bei Leid. Scheyers Begeisterung für die Besteigung ist spürbar und tatsächlich ist ein Aufstieg, so, wie für ihn, für die meisten Menschen Neuland. Minutiös liefert der Film Tipps und Hinweise. KILIMANDSCHARO - DIESMAL MIT KRÜCKEN wird so zur bebilderten Gebrauchsanweisung für einen Aufstieg. Das ist interessant, hat aber auch seine Schattenseiten: Scheyer versucht alle wichtigen Fakten zusammenzutragen, kein Detail zu übersehen. Ein Unterfangen, das so nicht gelingen kann. Seine Textstrecken sind gigantisch. Daten, Fakten, medizinische Hintergründe, Flora, Fauna und Informationen zu Bergsteigtechniken reihen sich aneinander. Die Informationsfülle ist so überwältigend, dass es der Jury schwer fällt, ihnen folgen zu wollen. Tatsächlich kommen Regie, Drehbuch, Kamera und Dramaturgie aus einer Hand. Aber auch ein Dokumentarfilm ist mehr, als reine Information. Ein Dramaturg, da ist sich die Jury sicher, hätte Informationen gefiltert und Zuschauern und Bildern Raum zum Erleben und erlebt werden gegeben. Und sicherlich hätte er auch dem Menschen Raum zu einer persönlichen Vorstellung gelassen, der seine Zuschauer die ganze Zeit - ganz bergsteigerisch - duzt: Michael Scheyer wendet sich zwar immer wieder vertrauensvoll an sein Publikum, bleibt aber insgesamt rätselhaft unsichtbar.

Doch KILIMANDSCHARO - DIESMAL MIT KRÜCKEN ist, wie eingangs erwähnt, auch ein Film über Thomas Lämmle. Er ist der Führer der Gruppe, der nach einem Unfall, mit viel Willenskraft, seinen Weg aus dem Rollstuhl, auf den Gipfel geschafft hat. Scheyer hat diese Parts mit denen der Besteigung verknüpft. Das ist ihm gut gelungen, zumal er sich hier textlich zurückhaltender zeigt. Lämmles Geschichte wirkt dabei mindestens genauso interessant, wie der Weg zum Kibo. Wer schon einmal erlebt hat, wie schwer es für Menschen ist, im ?Hier und Jetzt? zu leben, wenn sie durch Krankheit oder Unfall aus ihrem bis dato gelebten Leben geworfen werden und wie stark Verzweiflung sein kann, wenn der Weg zurück nicht gelingen will, der ahnt, welche Anstrengung Lämmle auf sich genommen hat. Die Exkurse über den Weg vom Krankenbett auf den Gipfel können hier Mut und Kraft geben. Und letztlich erweist sich dessen Hinweis, dass nur 30% mit den Füßen gelingt, aber 70% mit dem Kopf, in jeder Lebenslage ein guter Tipp.

Ausgiebig diskutiert hat die Jury auch, ob Scheyer die ethnologische Seite des Projekts hätte besser herausarbeiten müssen. Allerdings ist KILIMANDSCHARO - DIESMAL MIT KRÜCKEN in erster Linie ein Film über eine Bergbesteigung. Möglicherweise sollte der Film dennoch eine reflektorische Ebene beinhalten. Textpassagen, die behaupten, dass die ersten Menschen auf dem Kibo ein Deutscher und ein Österreicher waren, sind sicherlich wenig Bedacht gewählt, zeigen aber, dass das koloniale Denken in der Praxis fortlebt.

Allerdings anerkennt die Jury auch, dass KILIMANDSCHARO - DIESMAL MIT KRÜCKEN darauf hinweist, dass Lämmles Firma ?Extrek Africa?, als Non-Profit-Organisation aufgebaut ist und mit dem erwirtschafteten Geld Bewohner Tansanias unterstützt werden. Wie sich in der weiteren Diskussion zeigte, ist dies einem Teil der Jury durchaus ausreichend Reflexion gewesen, während einem anderen Teil der Jury scheint, als würde Scheyers Dokumentation Tansania als exotische Kulisse für das heroische Vorhaben eines Mannes gebrauchen. Wirklich beeindruckend ist dabei, wie nahe der Film den Akteuren kommt, das gilt sowohl für Thomas Lämmle, wie auch für dessen Mitbesteiger.

Nach einer genauso ausgiebig, wie konträr geführten Diskussion einigt sich die Jury darauf, Michael Scheyers KILIMANDSCHARO - DIESMAL MIT KRÜCKEN das Prädikat WERTVOLL auszusprechen.



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