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FBW-Bewertung: Asteroid City (2023)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: In mehr als 20 Jahren des Filmemachens hat Wes Anderson beinahe schon so etwas wie ein eigens Genre geschaffen. Anderson-Filme sind unverwechselbar, das fängt beim skurrilen Drehbuch an, geht über ein genauso eigenwilliges wie treffsicheres Set-Design und endet mit einem wahrlich hochkarätigen Cast. Das ist bei ASTEROID CITY nicht anders. Anderson inszeniert (und dies in der ganzen Vielfalt des Wortes) eine fiktive Begebenheit in einem genauso fiktiven Wüstenort der USA, an dem sicherlich auch John Ford seine Freude gehabt hätte. Und dennoch, wie bei Anderson üblich, hätte alles auch genau so sein können. Nicht alles zusammen, aber doch so einige dieser wunderlichen Begebenheiten.

Diesmal entführt Anderson in die 1950er Jahre. Hollywood, Cowboys, Atombombentests und der obligatorische Wüsten-Highway sind nur einige der Zugaben zum Film. In dieses Setting geraten ein Haufen junger Forscher mitsamt ihren Familien, ein Alien und dann natürlich das selbstbewusste Militär, das den Ort kurzerhand von der Außenwelt abzuschirmen beginnt. Aber nicht allein der Inhalt macht einen Film von Wes Anderson aus, sondern immer auch dessen eigentümliche Ästhetik. Diesmal inszeniert er die Welt der 1950er Jahre in pastellfarbenen Tableaus. Jede Einstellung könnte ein Filmstill zu einer dieser 1950er Jahre Cinemascope-Produktionen sein, ein Diorama oder ein Hopper-Gemälde, zumeist symmetrisch, immer aber peinlich genau konzipiert, von der gigantischen Hintergrundkulisse bis hin zu den posierenden Akteuren im Vordergrund. Diese Retro-Ästhetik dient jedoch nicht allein der Optik. Wes Anderson zitiert nicht bloß, sondern hält Hollywood einen Spiegel vor.

Insbesondere die Auftritte seiner männlichen Figuren scheinen zunächst glänzend kopiert. Ikonische Charaktere mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik. Ein Mechaniker, der über das winzige Schräubchen eines Autos sinniert, als hielte er die Lösung aller Energieprobleme in der Hand, ein Fotograf, der jedes noch so bescheidene Telefonat führt, als wolle er den Befehl zum Drücken des Roten Knopfs geben. Männer, die mit jeder Pose die Welt des amerikanischen Films beschreiben und sich letztlich doch nur als Abziehbilder outen. Anderson hat in jedem Fall seine Vorbilder gut studiert. Szene für Szene ist so komponiert, dass sie immer die amerikanische Filmwelt von einst durchscheint. Aber die Welt, in der Männer alles bewegen konnten, nur weil sie dem ?starken Geschlecht? angehört haben, gerät in ASTEROID CITY zur Farce. Andersons Figuren sind nicht identifikatorisch. Ihr Heroentum offenbart sich letztlich als Unfähigkeit zu Gefühlen, ihr Hang zum Kontrollieren offenbart den Zwang zu Organisieren und Berechnen und über allem und allen schwebt die permanente, unverwechselbare Melancholie der Wes Anderson-Filme.

Auch wenn sich ASTEROID CITY manchmal an sich selbst zu berauschen scheint, ist Andersons neuer Film niemals farblos oder langatmig. Im Gegenteil, die Jury hat sich fortwährend angeregt gefühlt, den Film zu analysieren. Das mag zumindest auch auf die Rahmenhandlung zurückzuführen zu sein. Anderson bietet die Wüstenhandlung in einem Fernsehspielszenario an. Gleich zu Beginn des Films lässt er einen Sprecher in einer monochromen Einstellung erklären, dass die nachfolgenden Szenen erfunden sind. Immer wieder kehrt Anderson in die schwarz-weiße Rahmenwelt zurück, in der er seine Zuschauer am Leben der eigentlichen Darsteller teilnehmen lässt, an deren Zweifeln am Film und auch (ein Verweis auf Rock Hudson, Van Johnson oder Montgomery Clift sei erlaubt) auf das zerrissene Seelenleben derer, die auf der Leinwand als superpotente Machos zu sehen waren und sich versteckt, im Privaten, der queeren Community zugewandt haben.

Irgendwo zwischen Science-Fiction, Gesellschaftsdrama und cleverer Absurdität angesiedelt, verspricht die Handlung ausgezeichnete Unterhaltung. Auch wenn sich seine Zuschauer bisweilen fragen mögen, was der Sinn des Filmes ist, wird er nicht langweilig. ASTEROID CITY ist vom Setting, über die Beleuchtung, den Schnitt, bis hin zu Besetzung und Musik eine pfiffige Komödie, die sicherlich auch nach dem zweiten oder dritten Mal anschauen noch immer neue Details preisgibt. Besonders erwähnen möchte die Jury hier auch die ausgezeichnete Synchronisierung.

ASTEROID CITY ist sicherlich nicht so gefällig, wie MOONRISE KINGDOM oder THE GRAND BUDAPEST HOTEL. ASTEROID CITY ist der bislang radikalste Film aus dem realitätsbrechenden Anderson-Universum. Aber auch wenn er hin und wieder etwas schwerer zugänglich ist, lohnt es sich, den Film zu schauen. Entweder indem man ihn einfach nur genießt oder aber und viel besser noch: indem man Spaß daran hat, ihn auch noch Stück für Stück zu dechiffrieren. Nach einer lebhaften Diskussion vergibt die Jury daher gerne das Prädikat BESONDERS WERTVOLL.



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