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FBW-Bewertung: Irre oder Der Hahn ist tot (2023)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Wir beobachten verschiedene Menschen in einer Tagesstätte, die offen von ihren Abstiegen infolge von ganz unterschiedlich gelagerten psychischen Erkrankungen berichten. Meist hören wir sie im Voice Over, während wir ihnen beim alltäglichen Agieren untereinander zusehen. Essen zubereiten und gemeinsam zu Tisch sitzen ist hierbei das zentrale verbindende Element. Den Besucher:innen geht es häufig darum, durch Abläufe und Begegnungen ihren Tag zu strukturieren oder bisweilen auch nur einen Grund zu haben, aufzustehen, was ihnen nicht selten schwerfällt, bedingt durch ihre Zustände.
Die Anlaufstelle? Freiburger Hilfsgemeinschaft? für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung, ist der Fixpunkt für die Besucher:innen und zugleich für den Film, der sie uns näherbringt. Sie erzählen stets von sich, nie über andere, über ihre Abstiege, die ?langen Karrieren? in der Psychiatrie. Auch von Menschen, an die sie immer wieder geraten und die ihnen nicht guttun. Über das Leben mit der Krankheit, nicht von ihrem Überwinden. Sie ist Teil ihres Lebens, bis zum Ende, auch das erlebt der Zuschauer mit.
In der Anlaufstelle verbringen sie ihre Zeit, wenn es für sie gerade wieder bergauf geht und ein selbständiges Leben in Ansätzen wieder möglich scheint. Sie lernen, sich selbst einzuschätzen: was können sie im Alltag bewältigen, was (noch) nicht? Es wird deutlich, dass es eben auch Muster gibt, die sich nicht ändern lassen. Doch in weiten Teilen der Gesellschaft fehlt es an Anerkennung und Verständnis für diese Beeinträchtigungen.
Anderthalb Jahre hat das Team um Regisseurin Reinhild Dettmer-Finke die Besucher:innen in der Einrichtung begleitet. Mit dieser großartigen Vorarbeit leben sie sich in die Gruppe hinein und schaffen die nötige Intimität, damit sich die Protagonisten ungehemmt in ihrer gewohnten Umgebung bewegen und sich vertrauensvoll öffnen.
Gerade durch die Interaktion untereinander kommen wir ihnen nahe. Eingehend reflektieren sie ihre Erfahrungen mit der Krankheit und den sozialen Folgen. Einer von ihnen bezeichnet seine sozialen Phobien als ?Menschenmuskelkater?. Jetzt sehen wir ihn, wie er über sich selbst staunend sein Zertifikat als ?Genesungs-Begleiter? feiert und künftig offiziell als Bindeglied zwischen Besucher:innen und Sozialarbeiter:innen fungiert.
Für nicht betroffene Zuschauende dürfte besonders eine lebhafte Diskussion über ihre Erlebnisse und Probleme im System der Psychiatrie in Erinnerung bleiben. Nicht wenige der Besucher:innen sehen den Umgang mit ihren Beeinträchtigungen kritisch. Psychiater:innen und Mitarbeiter:innen wird wenig Kenntnis von der menschlichen Existenz bescheinigt. Einer sagt: ?Die mit ihrem perfekten Leben wollen mir mein kaputtes Leben erklären.? Zentral in diesem Zusammenhang: Der Umgang mit Medikamenten. Wird in schwierigen Phasen der Krankheit zu schnell und zu viel mit schwerwiegenden Arzneimitteln gearbeitet? Die Skepsis ist groß, klar ist aber auch: Komplett ablehnen würden es nur die Wenigsten ? ?manchmal brauche ich Ruhe im Hirn.?
Eine Besucherin hat ihre negativen Psychiatrie-Erfahrungen in einem eindrücklichen Song niedergeschrieben. Wie für viele andere in der Tagesstätte spielt auch für sie die Kreativität, die Kunst eine große Rolle, nicht nur für die Verarbeitung ihrer Erfahrungen, Visionen und Zustände. Sie sind vielmehr Quelle kreativen Schaffens und dienen der Rückeroberung eigener Ressourcen. Das Klavier in der Anlaufstelle findet jedenfalls regen Anklang.
Hierüber gelangen wir noch einen spannenden Schritt weiter: Wann gilt ein Mensch als gesund, wann als krank? Aus Sicht der Betroffenen erscheint nicht selten der vermeintlich Gesunde als derjenige, der in seinen starren Betrachtungen möglicherweise Hilfe braucht. Besucherin Simone möchte offenbar nicht normal sein, da ihr die Krankheit zur wichtigen Quelle ihrer Kunst geworden ist. Nicht zufällig stammt von ihr die Interpretation des titelgebenden, bekannten Kanons. In einem ihrer Texte muss sie den toten Hahn ersetzen und steigt dafür morgens aufs Dach.
Der Film führt konsequent und ausschließlich aus Sicht von Betroffenen zu der Frage, ob nicht vielleicht die Gesellschaft reif für die Psychiatrie sei. Und die ganze Zeit sind wir zu Gast in einer Einrichtung, die als Institution gar nicht vorgestellt wird, Betreiber sind kaum zu sehen. So stellt sich andersherum die Frage, ob solche Einrichtungen eigentlich verbreitet sind? Brauchen wir nicht mehr davon? Wir beobachten ein psychiatrisches Milieu ohne Klinik. Vieles wäre in der klassischen Psychiatrie so nicht möglich. Allein das Festhalten an einer Zigarette, die vielen Halt gibt. Sicherheitsgründe würden ?normalerweise? dagegensprechen.
Der Film funktioniert durch die Nähe der Gemeinschaft, das Spontane wurde vielfach eingefangen, niemand ?wertet? hier. Der Prozess, mit der Krankheit zu leben, wird deutlich. Es ist wichtig zu sehen, dass es diese Orte gibt. Die Besucher:innen können alle auf dieselben Erfahrungen zurückgreifen, unabhängig von der individuellen Diagnose. Möglicherweise kann so ein Film zur Entwicklung solcher Institutionen beitragen, wenn es denn fachlich und gesellschaftlich gewünscht ist.
So macht es diesen Film besonders, dass er uns über die sehr lohnenswerte, begleitend-beobachtende Art der Dokumentation nicht nur sehr vielschichtige Persönlichkeiten näherbringt. Darüber hinaus fixiert er die Diskussion darüber, wie wir in Zukunft mit Betroffenen psychischer Beeinträchtigungen umgehen wollen. Die Jury hat sich sehr gerne für das höchste Prädikat ausgesprochen.



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