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Quo vadis, Berlinale?
Quo vadis, Berlinale?
© Berlinale

Berlinale Tagebuch 2016: Das Resümee

Dokumentarfilm hui, Erzählfilm pfui

Am heutigen Sonntag geht die Berlinale mit dem Publikumstag zu Ende. Nochmals laufen viele der in den vergangenen zehn Tagen in den Kinos der Stadt gezeigten Werke, die oftmals als Premieren ausgestrahlt wurden, nachdem der offizielle Part der 66. Internationalen Filmfestspiele von Berlin gestern Abend mit der Preisverleihung an den italienischen Dokumentarfilm "Fuocoammare" zu Ende gegangen sind.

Was bleibt vom diesjährigen Festival? War es ein guter oder ein schlechter Jahrgang? Stimmt die Richtung des nach Cannes zweitwichtigsten Filmfestivals der Welt? Unsere Kritiker Gregor Torinus und Ralf Augsburg haben zahllose Stunden in den Kinos zugebracht, um Werke im Wettbewerb und in den Nebensektionen zu sehen. Sie ziehen hier ein Fazit.

Gregor Torinus:
"Die Berlinale unter ihrem aktuellen Leiter Dieter Kosslick ist dafür bekannt, dass bei der Filmauswahl für wichtig erachteten politischen Inhalten oftmals mehr Bedeutung beigemessen wird als der künstlerischen Relevanz. Spätestens in diesem Jahr ist überdeutlich, dass dieser Ansatz - ins Extrem geführt - eine Sackgasse ist, welche der Qualität und dem Ansehen dieses weltwichtigen Filmfestivals nachhaltig schadet.

Dies ist schon alleine an der Tatsache erkennbar, dass im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale die wirklich großen Namen unter den Filmemachern durch Abwesenheit glänzen. Lediglich die Komödien "Hail, Caesar!" von den Coen Brothers und "Chi-Raq" von Spike Lee waren dort außer Konkurrenz zu sehen. Ansonsten findet sich eine Monokultur an tristen Problemdramen. Selbstverständlich muss hierbei auch ein Film über die Nazi-Zeit dabei sein, auch wenn dieser - wie der gezeigte "Alone in Berlin" - einen echten Tiefpunkt darstellt...

So blieben die ganz großen Höhepunkte im diesjährigen Wettbewerb leider aus. Aber ein paar sehr gute Filme gab es doch zu sehen- bezeichnenderweise die Dokumentarfilme wie den Festival-Gewinner "Fuocoammare" und Alex Gibney's "Zero Days" über den elaboriertesten Computervirus der Geschichte, der unter dem Begriff "Stuxnet" bekannt wurde. Dies ist ein Film von extrem hoher politischer und gesellschaftlicher Brisanz, der in eine Dramaturgie eingebettet ist, die so spannend wie ein guter Thriller ist.

Ein weiterer Höhepunkt und potentieller Bären-Anwärter des diesjährigen Wettbewerbs war "Die Kommune" von Thomas Vinterberg. Die lose von der eigenen Kindheit des Regisseurs inspirierte Handlung zeigt ein Ehepaar, das in ihren frisch geerbten großen Haus eine Kommune gründet. Der Filme präsentiert den dänischen Regisseur in Höchstform und zeigt einen Mikrokosmos der menschlichen Existenz: Lieben, Leiden, Heranwachsen, Tod, Freude, Verzweiflung, Aufbruch, Stillstand, Konflikt und Harmonie. Wenigstens gewann Trine Dyrholm den Bären als "Beste Darstellerin".

Bei der 66. Berlinale zeigte sich erneut, dass viele der interessantesten Filme in den Nebensektionen versteckt sind. Hierbei erwies sich insbesondere das Panorama als eine wahre Wundertüte voller lohnenswerter Entdeckungen. Auch dort zählte eine Doku zu den eindeutigen Höhepunkten: "Mapplethorpe: Look at the Pictures" widmet sich dem Fotokünstler Robert Mapplethorpe, der mit fetischistischen homosexuellen SM-Bildern berühmt-berüchtigt wurde. Das Portrait von dem Regieduo Randy Barbato und Fenton Bailey ("Inside Deep Throat") ist von großer suggestiver Kraft und entwirft zugleich ein differenziertes und in die Tiefe gehendes Portrait dieser komplexen Künstlerpersönlichkeit.

Ein weiteres Highlight im Panorama war das surreale Psychodrama "Remainder", eine deutsch-britische Koproduktion unter der Regie des israelischen Videokünstlers Omer Fast. Die Adaption des Debütromans von Tom McCarthy erzählt die Geschichte eines jungen Manns (John Sturridge), dem in der Londoner Innenstadt herabfallende Teile auf den Kopf treffen. Nachdem er aus dem Koma erwacht, kann er sich zunächst an nichts mehr erinnern, ist dafür jedoch um 8,5 Millionen Pfund an Schweigegeld reicher. Nach und nach kommen ihm Bilder, scheinbare Bruchstücke seiner verlorenen Identität, die er mit seinem Geld und mit einem gewaltigen Aufwand nachstellen lässt. Dabei verschmelzen immer mehr Erinnerung, Gegenwart und Zukunft, Alltagsrealität, Traum und Vision."

Ralf Augsburg:
"Keine Frage, dass 'Fuocoammare' ein würdiger Gewinner der Berlinale ist. Aber zugleich ist er auch eine allzu logische und damit fast schon wieder langweilige Wahl, welche die Zukunft nach der Ausrichtung des Festivals stellen lässt. Bereits vergangenes Jahr beim Sieg des iranischen semi-dokumentarischen Werks 'Taxi Teharan' waren Stimmen laut geworden, dass nicht unbedingt der beste Film gekürt worden sei, sondern die Jury ein Signal für das Menschenrecht der freien Meinungsäußerung aussenden wollte - ganz im Sinne der sich als 'politisch' verstehenden Filmfestspiele.

In diesem Jahr hätte man sich den Wettbewerb fast schon sparen können. Bereits vor Beginn hatten Dieter Kosslick und sein Team deutlich gemacht, dass das Flüchtlingsthema das bestimmende der Berlinale sein würde. Auch die Jury um Meryl Streep betonte die politische Verantwortung der Veranstaltung. Da musste man nur eins und eins zusammen zählen, um vorauszuahnen, dass wenn Gianfranco Rosi's Flüchtlingsdokumentation "Fuocoammare" nur halbwegs gelungen sein würde, folgerichtig der Bär nur an diesen Streifen gehen könnte.

Weiter gedacht muss man fast davon ausgehen, dass in Zukunft fabulierendes Erzählkino - egal wie furios oder originell - kaum eine Chance gegen eine Dokumentation hat, wenn ihr Thema nur politisch, aktuell und gewichtig genug ist. Die Verantwortlichen sollten sich dieser Gefahr bewusst sein, dass eine Verengung auf "die gute Sache" dem Kino als mächtiges Erzählmedium nicht gerecht wird und ihm im schlimmsten Fall auch die Magie austreibt."


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