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FBW-Bewertung: Der Junge muss an die frische Luft (2017)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Mit der Verpflichtung von Julius Weckauf gelang Caroline Link der Besetzungscoup des Jahres. Unter mehr als 5000 Bewerbern setzte sich der Junge aus einem Dorf in NRW beim Casting durch, nachdem er von Kunden im Laden seiner Eltern auf die Suche nach einem jungen Hape Kerkeling aufmerksam gemacht worden war. Er stammt nicht nur aus einemähnlichen Milieu und hat große Ähnlichkeit mit dem Entertainer. Er hat auch das verschmitzte Lächeln und jenen Schalk im Blick, der dazu führt, dass auch dem kleinen Hape keiner böse sein kann.
Caroline Link führt den Jungen zu einer großartigen schauspielerischen Leistung, nicht nur damit knüpft sie an ihr grandioses Debüt mit JENSEITS DER STILLE an, wo sie ebenfalls ein Händchen für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bewies. Weckauf fügt sich nahtlos in ein grandioses Ensemble ein.
Der Film nach den gleichnamigen Erinnerungen Kerkelings folgt dessen Entwicklungüber drei Jahre Anfang der 1970er. Er macht die Erfahrungen, die ihn entscheidend prägten. Der pummelige, 9-jährige Hans-Peter ist Teil einer großen, feierwütigen Familie aus dem Ruhrpott, in der jeder seine kleinen Macken hat. Nach den ersten behüteten Jahren im Haus von Oma und Opa auf dem Dorf zieht er mit seinen Eltern in eine Stadtwohnung, im gleichen Haus wohnt das andere Großelternpaar. Etliche Tanten und Onkel sind ebenso stets gern gesehene Gäste. Sein Talent, andere zum Lachen zu bringen, trainiert er im Krämerladen seiner Oma Änne, wo er Kundinnen perfekt nachmacht.
Den ersten Knick bekommt die heile Welt nach dem Tod der Großmutter. Später erkrankt seine Mutter schwer und verfällt in Depressionen, an denen selbst Hans-Peters komödiantische Fähigkeiten abprallen. Nach ihrem Freitod ziehen die Großeltern vom Land in die Stadt und kümmern sich um den Jungen, der so gerne die Stars des deutschen Fernsehens imitiert.Und alle ahnen schon damals und akzeptieren unausgesprochen, dass Kerkeling homosexuell ist.
Die Fröhlichkeit Kerkelings ist aus tiefem Schmerz geboren, dies bringt der unterhaltende Film dem Zuschauer sehr nah. Link blickt mir großer Liebenswürdigkeit und Ehrlichkeit auf diese kleinbürgerliche Welt, sie hält traumwandlerisch sicher die Balance aus Tragikomik und Ernsthaftigkeit. Sie beweistdas richtige Gespür für den Ton in jeder Situation, wobei sie einen im deutschen Kino einmaligen Mut zur Sentimentalität beweist, die sie stets richtig dosiert. Ihr Film ist nostalgisch im besten Sinne des Wortes, aber nie kitschig oder verklärend. Zur gelungenen Zeichnung von Milieu und Ära tragen die detailreiche Ausstattung und die Charakterisierung der Figuren bei, die alle ihre Schrullen und Macken haben. Aber vor allem das Herz am rechten Fleck.
Über das Porträt des jungen Kerkeling wird die alte Bundesrepublik mit ihren Kiezen und Tante-Emma-Läden lebendig. Hier hat der Entertainer seine Wurzeln, das Fernsehen der 70er mit Hitparade, Disco und Samstagabendshows wird eine Quelle seines unverwechselbaren Humors. Zugleich macht der Film klar, warum Kerkeling auf dem Höhepunkt des Ruhms dem Bildschirm adé sagte. Er ist nun mal ein Kind der 70er, das sich selbst oft in Szene setzte, aber nie seine Person ins Zentrum seiner Auftritte stellte. Und genau das reflektiert der Film auf wunderbare Weise.



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