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FBW-Bewertung: Verlorene (2018)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: In seinem Debütfilm, der in der Reihe ?Perspektive Deutsches Kino? der Berlinale Premiere hatte, nähert sich Felix Hassenfratz sehr sensibel einem Tabuthema an. Sexueller Missbrauch soll, so vermuten Experten, in 10 bis 15% der deutschen Familien den Alltag und das Zusammenleben belasten. Außenstehende ahnen meist nicht von den seelischen Qualen der Bertoffenen. So auch in dieser Geschichte der begabten Orgelspielerin Maria, die so völlig anders ist als viele Mädchen ihres Alters. Sie schminkt sich nicht, kleidet sich altmodisch, bleibt an den Abenden zu Hause, wo sie nach dem Tod der Mutter den Haushalt schmeißt. Ihre jüngere Schwester muss sie sogar überreden, sich der Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule zu stellen. Dabei entdeckt sie eine frische Wunde und Narben, die sich Maria nur selbst zugefügt haben kann.
Hannah ist mit ihren gefärbten Haaren und der starken Schminke auf den ersten Blick das enfant terrible der Familie. Heimlich verteilt sie Drogen an die Freundinnen vor der Disko und schwänzt die Schule. Ihre Teenagerrebellion wird durch das Gefühl angeheizt, ihr Vater ziehe Maria vor. Bis sie eines Tages entdeckt, dasssich der Vater an Maria vergeht.
Niemand will Hannah glauben, dass der angesehene Besitzer eines Zimmereibetriebes und gläubige Katholik, der jeden Sonntag die Kirche besucht, seine Tochter missbraucht. Eher tuschelt das Dorf über eine mögliche Beziehung zwischen Maria und dem fremden Gesellen Valentin, der seit wenigen Tagen auf dem Hof wohnt. Beide kommen sich auch tatsächlich näher.
Sehr genau zeichnet der Filmemacher die archaische Atmosphäre im Kosmos Dorf, wo jeder jeden kennt. Der schwäbische Dialekt aller Protagonisten erschwert an einigen Stellen das Verständnis der Dialoge, verleiht dem Film andererseits hohe Authentizität. Hier hat die Kirche noch einen anderen Stellenwert, sie bestimmt den Rhythmus des Lebens und die moralischen Werte. Die Scheinheiligkeit des Vaters, der den Geboten nach außen folgt und in den eigenen vier Wänden missachtet, stürzt Maria in einen weiteren Gewissenskonflikt. Nur an der Orgel der Kirche findet sie Trost und Vergessen.
Um sich aus ihrer Lage und dem Konflikt zu befreien, braucht es mit dem Gesellen den Anstoß von außen. Letztlich finden beide Mädchen die Kraft zur Veränderung ihrer Lebensumstände in sich selbst. Maria Dragus und Anna Bachmann machen ihreGefühlswelt kongenial nachvollziehbar. Maria nimmt den Missbrauch hin, sie hat die Ehefrau- und Mutterrolle übernommen. Sie bleibt, auch um ihrejüngere Schwester zu schützen. Diese will das Opfer jedoch nicht annehmen und Schuld auf sich laden. Wie sie sich gegenseitig brauchen und stützen und doch voneinander abgrenzen, ist nuancenreich herausgearbeitet und gespielt.
Der Film stellt das Opfer eines Missbrauchs und mit der Schwester eine Ko-Abhängige ins Zentrum, ohne den Täter zu verurteilen. Hassenfratz zeigt, wie schwierig es ist, Schweigen, Lethargie und Angst zu überwinden. Den Gefühlen der Opfer ordnen sich die Bildgestaltung und die spröde Erzählweise unter. Hier wird nichts beschönigt ? erst am Ende entlässt der Film denZuschauer mit einem Hoffnungsschimmer für die Mädchen. Dann öffnet sich die Kamera auch für die Landschaft.



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