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FBW-Bewertung: Über die Unendlichkeit (2019)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Dass der Schwede Roy Andersson Zeit etwas anders bewertet, als seine Umwelt, dass lässt sich schon daran ablesen, dass er es als Regisseur in den vergangenen 50 Jahren auf kaum mehr als ganze sieben Spielfilme gebracht hat. Und natürlich spielt auch in ÜBER DIE UNENDLICHKEIT das Motiv der Zeit eine gewichtige Rolle.

Ein Mann, der an einem Treppenendeüber das Leben seines Schulfreundes sinniert, ein Pfarrer, der den Verlust seines Glaubens beklagt, ein Zahnarzt, der seinen Patienten nicht behandeln will, ein verzweifelter Mann, der gerade einen ?Ehrenmord? begangen hat. In 30 kurzen Spielszenen gewährt Anderssons Film Einblicke in die Leben diverser Mitmenschen, die auf eine Weise befremdlich wirken und doch irgendwie sehr bekannt.

Auf den ersten Blick sind es extrem melancholische Szenen. Bilder, dieüber das Grading sorgsam farbentleert wurden und blutleer statisch wirken, genauso statisch wie die Kamera selbst, die dem Zuschauer diese kurzen, voyeuristischen Blicke gewährt. Und dennoch steckt in jeder Sequenz etwas, was Zuschauer nicht mehr loslassen wird. ÜBER DIE UNENDLICHKEIT ist, das stellt die Jury fest, ein Film, der Empathie verlangt, ja geradezu danach schreit, denn Einsamkeit und Vergeblichkeit des Daseins der Protagonisten ist buchstäblich greifbar.

ÜBER DIE UNENDLICHKEIT ist wahrlich kein einfacher Film. Andersson vereint darin Philosophie, Physik und Filmwissenschaft, und zwar aufs Beste. An einer Stelle erklärt ein Student seiner Freundin den ersten Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, dass Energien ineinander umwandelbar sind, nichtaber gebildet oder vernichtet werden können. - Vielleicht wäre genau dies ein gelungener Zugang zum Titel des Films. Jede dieser 30 Szenen wirkt, als sei gerade jedwede Energie gerade aus ihr entschwunden. Und dennoch haben diese Szenen Bestand, beschäftigen die Zuschauer für lange Zeit. ÜBER DIE UNENDLICHKEIT ist nach Ansicht der Jury ein Film, über den geredet werden muss, ein Film, der die Diskussion braucht.

Den schnellen Zugang zu jeder Szene gewährt bei Andersson eine freundlich klingende Frauenstimme im Voice-Over. Mit einfachen Sätzen, wie ?Ich kenne eine Frau, die am Bahnhof wartet, ohne abgeholt zu werden? begleitet sie die Zuschauer durch jede Szene des Films. Mehr noch erweist sie sich auch als überzeitliches Wesen, zumindestdort, wo Andersson die Szenen in der Vergangenheit spielen lässt. Kriegsgefangene, die durch einen Schneesturm marschieren, ein Exekutionskommando oder aber die letzten Stunden in Hitlers Führerbunker entführen die Zuschauer ganz offensichtlich in die Zeit des Zweiten Weltkriegs und natürlich ist auch hier die Monotonie und Teilnahmslosigkeit aller Beteiligten spürbar.

In Anderssons wohl durchkomponierten Szenen gewähren genauso einsame wie einsilbige, monadische Zeitgenossen, dem voyeuristischen Zuschauer Erkenntnisse über das Menschsein. Das klingt beinahe trivial, aber in dieser Trivialität steckt, so resümiert die Jury, bei Anderssons eben auch sehr, sehr viel Weisheit. Und dann beglückt Andersson plötzlich mit kleinen Farbtupfern, die das Menschsein erträglicher gestalten und auch mit kleinen Szenen, wie der, in der sich ein Mann in einer Bar plötzlich erhebt und begeistert ausruft, dass einfach alles fantastisch sei. Und auf einmal erscheint die Tristesse der vorangegangenen Szenen gar nichtmehr so eng und klaustrophobisch, und das Leben, wenn man es eben anders betrachtet, doch als sehr lebenswert.

Nur einen Punkt sieht die Jury in Anderssons Film kritisch: Dass People of Color das erste und einzige Mal in einer Szene erscheinen, die sich um einen Ehrenmord dreht. Nach Ansicht der Jury erscheint dies ganz und gar nicht mehr zeitgemäß.



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