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FBW-Bewertung: Die Wütenden - Les Misérables (2019)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Der in einem sozialen Brennpunkt von Paris aufgewachsene Regisseur Ladj Ly hat sich bereits dokumentarisch mit den sozialen Problemen des Migrantenviertels auseinandergesetzt, in dem unterschiedliche Kulturen auf engem Raum in einer fragilen Balance koexistieren. Nun hat er mit seinem großen Spielfilm DIE WÜTENDEN eine intensive Spielfilmvariante des Themas inszeniert.
Aus der Sicht des neu in das Migrantenviertel Montfermeil versetzten Stéphane Ruiz (Damien Bonnard) erzählt Ly von den Auseinandersetzungen zwischen Gesetz und Verbrechen, zwischen Männern, die zwar auf verschiedenen Seiten stehen, sich jedoch erschreckend ähnlich sind. An jenem Ort begannen 2005 die gewalttätigen Unruhen der Banlieus. Seine Kollegen Chris (AlexisManenti) und Gwada (Djibril Zonga) erweisen sich als erfahrene aber auch korrupte Straßencops, die auch vor sexueller Belästigung nicht zurückschrecken. Im Fond des Dienstwagens erlebt Ruiz das Viertel, in dem er nun für Ordnung sorgen soll. Die Schule des Viertels ist nach Victor Hugo benannt,der hier Les Misérables geschrieben hat. Der Titel spielt nicht nur auf diesen Umstand an, sondern legt nahe, dass sich seitdem nicht viel verändert hat in Paris.
Als ein Junge aus dem Viertel das Löwenjunge eines durchreisenden Zirkusdirektors stielt, kommt es zum Konflikt zwischen den Zirkus-Roma und den Männern des lokalen Paten, des ?Bürgermeisters?. Die Polizisten stellen den Dieb und befreien das Tier, doch in der Auseinandersetzung verletzt Gwada den Jungen mit einem Gummigeschoss. Obwohl sich die Polizisten reuig zeigen und zu vermitteln versuchen, eskaliert die Situation immer mehr, und am Ende stehen sich Ruiz und der Junggangster gegenüber.
In der Tradition von Bruno Dumonts sozialrealistischem DAS LEBEN JESU, Bob Swaims Copdrama LA BALANCE, dem Gangfilm LA HAINE oder auch dem brasilianischen Gegenstück TROPA DE ELITE beschreibt der Film eine destruktive maskuline Welt, eine hermetische Gesellschaft der Rituale und Demütigungen, in der nur die Stärksten zum Ziel kommen. Ly knüpft aus seiner Sicht auch an das Cinéma beur der 1980er Jahre an, das der nordafrikanischen Bevölkerung Frankreichs erstmals eine eigene Stimme schenkte. Doch die Qualität von DIE WÜTENDEN liegt gerade im Umstand, dass seine Protagonisten nicht polarisieren, sondern allesamt Teil der Gewaltspirale sind. Das gibt dem Film zweifellos eine nihilistische Grundtendenz, die jedoch zugleich eine tiefe Bemühung um sozialen Realismus erkennen lässt. Der Film gesteht seinen Protagonisten mehrere Seiten zu, aus denen sich ein komplexes Bild der französischen Gegenwart formiert.
Formal ist DIE WÜTENDEN packend und überraschend inszeniert. Reportageartige Sequenzen wechseln sich mit Sequenzen voller streng kontrollierter Stilmittel ab. Die von einem Jugendlichen gesteuerte Drohne wird kreativ und inhaltlich wie formal aufgegriffen. Die subtile und intensive Musikgestaltung baut vor allemauf subtile Bass-Drones, Keyboardflächen und pulsierende Rhythmen.
Die Dramaturgie des Films ist nicht vorhersehbar, klischeehafte Konflikte werden vermieden. Hingegen werden ethische Positionen heraufbeschworen und offen gelassen bzw. an das Publikum zurückgegeben. Persönliche Verhältnisse bleiben in der Schwebe. Es kommt dem Film zugute, dass er kurz vor der möglichen Eskalation endet. Er verdeutlicht dabei, wie fragil das Gleichgewicht der Kräfte in einer multiethnischen Gesellschaft letztlich ist.
Die Jury war vom Gesamtwerk des Films nachdrücklich überzeugt und vergibt gerne das höchste Prädikat ?besonders wertvoll?.



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