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FBW-Bewertung: Chichinette - Wie ich zufällig zur Spionin wurde (2019)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Marthe Cohn gehört zu den letzten noch lebenden Zeitzeugen von Holocaust und Nazi-Diktatur. Unermüdlich reist sie durch die Welt und gibt Erfahrungen und Erlebnisse weiter an nachfolgende Generationen. Nicola Alice Hens begleitet Marthe Cohn mit ihrem Mann auf diesen Reisen und dokumentiert die faszinierende Frau und ihre so wichtige Arbeit. Ins Zentrum der Erzählung stellt die Filmemacherin jedoch das titelgebende Erlebnis Cohns aus den letzten Kriegstagen, über das sie Jahrzehnte lang nicht gesprochen hat.
Eine große Stärke des Films liegt zweifelsohne in der Zeichnung dieser beeindruckenden Protagonistin. Die Perspektive auf sie als Holocaust-Überlebende erschöpft sich nicht ausschließlich darin, großen Respekt zu zollen, was ja in erster Linie Distanz bedeuten würde. Vielmehr arbeitet die Montage aufsehr erfolgreiche Weise zusätzlich Martha Cohns persönlichen Eigenarten heraus, lässt Blicke auf Befindlichkeiten zu und schafft durchaus persönliche Momente, die aber immer darauf abzielen, die öffentliche Person Martha Cohns näher zu ergründen. So etwa bietet der Einbezug ihres Mannes ?Major? Cohn und die damit später im Film verbundene Erkenntnis, wie sich im Laufe des Lebens ihre Rollen innerhalb der Beziehung komplett getauscht haben, eine weitere neue und sehr spannende Perspektive auf die Protagonistin.
Auch dramaturgischüberzeugt die Montage des Films, indem sie sehr geschickt die Spannung aufrechterhält. Gerade die Hinführung zur titelgebenden Geschichte gelingt sehr gut. Die Geschichte selbst zeigt sich dann wie ein eigenständiges und in die Erzählung eingebettetes Kapitel gestaltet. Marthe Cohn wird via O-Ton zur Erzählerin, Fotos entwickeln sich zur Grundlage wunderbar organischer Animationen, und impressionistisch anmutende Landschaftsaufnahmen unterstützen zusammen mit der sehr aufwändigen Ton- und Musikebene diese nacherzählte Abenteuergeschichte, die ?Chichinette?, so Cohns Spitzname, zuspätem Ruhm verholfen hat. Der Filmtitel selbst, der sich vielleicht etwas zu effektvoll auf eben diese eingebettete Geschichte bezieht, führt damit ein klein wenig in die Irre. Denn Nicola Alice Hens? Film ist weit mehr als das Re-Enactment einer Anekdote. Der Regisseurin ist das vielschichtigePorträt einer wichtigen Zeitzeugin gelungen, mehr noch: Der Film vermag es, diesen ungeheuren Drang Martha Cohns zu konservieren, ihre persönliche Perspektive auf die Verbrechen der Nazis zu teilen. Die Zeitzeugen mögen versterben, doch Filme wie diese halten ihre Erinnerungen am Leben.



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