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FBW-Bewertung: Lieber Thomas (2021)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Andreas Kleinerts Film über den Dramatiker, Lyriker und Filmemacher Thomas Brasch ist ein auf allen Ebenen gelungenes Beispiel eines Biopics, das sich mit Bildern, Atmosphären und Metaebenen seinem Protagonisten annähert und nicht über die bloße Aneinanderreihung von Lebensstationen. Als besonders gelungen empfand die Jury die Charakterisierung des Protagonisten in all seiner Ambivalenz, der Angst vor der eigenen Courage, den scheinbaren Widersprüchen und der Zerrissenheit. Zum Einstieg erzählt uns der Film mit einer wie ein Prolog erscheinenden Internatsszene, wie Thomas Brasch nicht richtig mitmacht, wie er sich nicht anpasst. Diese Einstellung begleitet ihn den gesamten Film über, immer wieder eckt er damit an, vor allem in der DDR, aber auch im Westen. Der Film macht es sich dabei keineswegs leicht, sondern erzählt Braschs stete Konfrontationen als komplexes Geflecht aus den direkten Auswirkungen des realsozialistischen Systems, seiner Beziehung zum Vater sowie seiner ausschweifenden Persönlichkeit. In keinem Moment moralisiert der Film oder wertet die Handlungen seiner Figuren ? auch nicht die seines linientreuen Vaters. Das dergestalt zuhöchst differenziert gestaltete Bild nicht nur der Charaktere, sondern des Lebens in der DDR ganz allgemein, stellt eines der Höhepunkte dieses außergewöhnlichen Films dar, der sich mit diesen exakten Studien vom Gros der aktuellen filmischen Erzählperspektiven auf die DDR wohltuend absetzt.
Zu dieser komplexen Figurenzeichnung gesellt sich auf der inszenatorischen Ebene die fantastische Umsetzung der Fantasie- und Traumebenen Braschs, die mit der ?realen? Handlung so brillant verknüpft werden, dass sich auf äußerst organische Weise weitere Perspektiven eröffnen. Darüber hinaus bindet Andreas Kleinert immer wieder auch Found Footage ein, das atmosphärisch eine Menge dazu beiträgt, uns in Handlungszeit und Milieu zurecht zu finden. Für das überzeugende Gefühl der Authentizität tragen hier außerdem die Ausstattung und die Wahl der Drehorte ganz besonders bei ? vielleicht gerade, weil sie vergleichsweise dezent und reduziert ausfallen. Dadurch, dass es eher um die passende Stimmung als um eine detailgetreue faktische Korrektheit geht, fühlen sich die Bilder nicht an wie Kreationen aus einem Heimatmuseum, sondern strahlen wahres Leben aus. Auch Einfälle wie der, Braschs Wohnungen in Ost- und Westdeutschland fast gleich erscheinen zu lassen, tragen aufs Überzeugendste zur Tiefe des Erzählten bei. Dass dieses stimmige erzählerische und visuelle Konzept funktioniert, resultiert auch maßgeblich aus der Entscheidung, in Schwarzweiß zu drehen. Das dadurch in der herausragenden Bildgestaltung entstandene ambivalente Amalgam aus Abstraktion, Lebendigkeit, Tiefe und Historizität bildet mit dem Erzählten eine perfekte Einheit. Die von Bläsern bestimmte ungewöhnliche Musik und ein durchweg umwerfend aufspielendes Ensemble komplettieren den Film zu einem großartigen Erlebnis.



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