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FBW-Bewertung: Futur Drei (2020)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Das Futur III soll als Tempus ein Ereignis beschreiben, das in der Zukunft mit größter Wahrscheinlichkeit nicht eintreffen wird - und letztlich beschreibt das die Situation der Protagonisten in Faraz Shariats Film FUTUR DREI ziemlich treffend.

Der Regisseur und Drehbuchautor erzählt die autobiografisch gefärbte Coming-Of-Age Geschichte des jungen Parvis. Dessen Eltern sind einst aus dem Iran geflüchtet und haben es in Deutschland mit viel Arbeit zu einem gewissen Wohlstand gelangt. Parvis selbst ist schon in Deutschland geboren, scheint aber nicht bereit ein eigenes Leben führen zu wollen. Er kann in der bürgerlichen Sicherheit seiner nächsten Umgebung seine Homosexualität ziemlich offen ausleben, langweilt sich dennoch entsetzlich. Als er nach einem Ladendiebstahl Sozialstunden in einer Flüchtlingsunterkunft ableisten muss, lernt er dort die iranischen Geschwister Banafshe und Amon kennen und mit ihnen auch ein ganz anderes Leben.

Die Jury ist sich einig: Selten, vielleicht sogar nie zuvor, hat sie in ihren Sitzungen einen Film erlebt, der sie so positivüberrascht hat. FUTUR DREI ist nicht nur erstklassig besetzt, sondern auch in hohem Maß individuell, bisweilen sogar egozentrisch, immer aber höchst kreativ, authentisch, sensibel und stets voller Wärme. Obwohl Shariats Spielfilm gleich mit doppeltem Coming-Out, nämlich einem schwulen und einemkulturellen, aufwartet, gerät er nicht einmal einen gefühlten Hauch weit in die Nähe von Familiendrama, Betroffenheits- oder Problemfilm. Im Gegenteil! Shariats Film hat sich befreit von ärgerlichen Klischees, Mitleidszenen und auch den leidlich bekannten Vorgaben zur Ausgewogenheit der verschiedenen Fördererinstanzen. FUTUR DREI vibriert, lebt und atmet. Die Jury zeigte sich begeistert von der Erzählkunst und den frischen, unorthodoxen Bildern. Obgleich sie bisweilen an surreale Musikvideos erinnern, verstellen sie nie den Blick auf die gesellschaftsrelevanten Inhalt des Films.

Einerseits driften Parvis, Banafshe und Amon ziellos durch den Sommer, durchfeiern mit Freunden die Nächte und verschlafen halbe Vormittage, andererseits bahnt sich zusehends die Katastrophe an. In dem Maße wie Banafhes Abschiebung zur greifbaren Realität wird, geraten die nächtlichen Ausflüge zur wehmütigen Erinnerung für die drei Protagonisten. Aber auch für die Zuschauer, denn die sind von Anfang an mitten drin, in der Filmhandlung. Das große Vermögen Shariats besteht darin, das Publikum in den Bann des Augenblicks zu ziehen und unmittelbar zu involvieren.

FUTUR DREI ist in jeder Szene unglaublich dicht am Geschehen. Ohne jemals aufdringlich zu wirken, lässt Shariats Spielfilmdebüt die Zuschauer an Parvis plötzlichem Erwachsenwerden teilhaben. Mit unglaublicher Wucht nähert er sich einem gesellschaftlich sensiblen Thema ? und diese Wucht ist gut so! Die farbenfrohe, lebensbejahende Bildsprache schafft genauso Atmosphäre, wie der rauschhafteSoundtrack des Films. Nichts wirkt peinlich, nichts aufgesetzt. Weder die durchaus reichlich vorhandenen Sexszenen, noch die innere Zerrissenheit aller Beteiligten.

"Ich erlebe alles zweimal. Als der Mensch, der ich hätte sein können und als der, der ich bin", lässt Shariat einmal seine Protagonistin Banafshe formulieren und das ist vielleicht das durchgängigste Motiv des Films. Parvis, Banafshe und Amon sind gefangen. Gefangen in ihrer Herkunft, gefangen in Gesetzen und Regeln. So wie sie sind, schaffen sie es kaum, Eingang in den narrativen Kontext unserer Gesellschaft zu finden. Ihre Träume, Wünsche und Sehnsüchte aber, und das zeigt der Film, sind echt und mindestens genauso wichtig wie die der weißen, heteronormativen Mehrheitsbevölkerung des Landes.

Der Film erscheint zunächst zwar formal relativ leicht, stemmt allerdings schwerwiegende Themen. Dass FUTUR DREI diesen Gegensatz bewältigt, spricht für die Meisterschaft Faraz Shariats.



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