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FBW-Bewertung: The Many Saints of Newark (2020)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: THE MANY SAINTS OD NEWARK ist ein Prequel der TV-Serie ?The Sopranos? und bei solchen Weiterführungen von erfolgreichen Erzählungen müssen die Drehbuchschreiber ein schwieriges Problem meistern. Zum einen müssen die Fans und oft genauen Kenner der Serie befriedigt werden, es darf also keine narrativen oder stilistischen Brüche im Vergleich zur Serie geben. Zum anderen muss der Film aber auch für sich selber bestehen, also für ein Publikum verständlich und fesselnd sein, das die Serie nicht kennt und so darauf angewiesen ist, dass die Charaktere auch ohne Vorkenntnisse auf der Leinwand lebendig wirken. Bei der Sitzung der Jury waren jene, die die Serie kannten, deutlich in der Minderzahl. Hier saß also nicht das Zielpublikum, aber dennoch gab es keinerlei Irritationen oder Probleme, die komplizierten Verbindungen in den Familien und der Verbrecherorganisation zu verstehen. Der Autor und Showrunner der TV Serie ?Sopranos? David Chase hat zusammen mit dem renommierten Drehbuchautoren Lawrence Konner geschickt die Vorgeschichte des Soprano-Clans in den 1960er Jahren in einen ganz eigenen Kontext gestellt. Dabei geht es zwar auch darum, wie sich die Familien Moltisanti und Soprano als italienische Einwanderer zum Teil noch der ersten Generation in den USA behaupten können, wie sie eine kriminellen Kultur aus ihrem Heimatland erfolgreich adaptieren und in ihrer neuen Heimat durchsetzen. Überraschend ist aber, dass hier auch die Schwarzen eine wichtige Rolle spielen. Einige von ihnen sind Konkurrenten, etwa bei der beliebten Zahlenlotterie, aber ein Kernstück der Geschichte sind auch die Rassenunruhen in Newark im Jahr 1967, die wie ein Katalysator in der Entwicklung der kriminellen Strukturen in der Stadt wirken. Chase und Konner nutzen sie als einen dramaturgischen Brennpunkt, und mit diesem sowohl realistischen wie auch ungewöhnlichen Kontext gelingt es ihnen, anders zu erzählen als in den vielen Mafiafilmen von ?Scarface? über ?Der Pate? bis zu ?Good Fellas? und eben den ?Sopranos?. Die beiden vermeiden in THE MANY SAINTS OF NEWARK möglichst Genrekonventionen, und wenn sie mit ihnen arbeiten, enttäuschen sie geschickt die durch sie geweckten Erwartungen. So gibt es als Finale etwa nicht die große Entscheidungsschlacht im Bandenkrieg zwischen den Italienern und Afroamerikanern ? beide müssen sich miteinander arrangieren, und so kommt es zu dem fragilen Waffenstillstand, der dann in der Serie eine große Rolle spielen wird. Auch psychologisch wird hier virtuos erzählt. Es werden die meisten in der Serie wichtigen Figuren vorgestellt (Christopher Moltisanti ist zu Beginn des Films noch nicht geboren, erzählt aber als Stimme aus dem Grab die Geschichte), und man bekommt einen guten Eindruck davon, wie etwa Tony Sopranos Mutter oder sein Onkel Corrado sich zu den Soziopathen entwickelten, die sie in der Serie sein werden. Tony selbst ist ein nachdenklicher, eher zurückhaltender Jugendlicher, der von den Männern der Familien geprägt wird. Gespielt wird er vom Sohn des verstorbenen James Gandolfini, Michael, und so muss eine sowohl körperliche wie auch mentale Ähnlichkeit nicht behauptet werden, sondern sie existiert ganz natürlich. Stilistisch erinnert THE MANY SAINTS OF NEWARK eher an realistische Thriller aus den 1960er und 1970er Jahren als an den Look der TV-Serie, und auch dies ist eine gute Entscheidung, denn der Stil der Serie wäre ein Anachronismus. Aber auch die nostalgische Stimmung, mit der etwa Coppola und Leone gearbeitet haben, wäre hier nicht passend gewesen. Alle Rollen sind genau richtig besetzt, ohne dass die Darsteller*innen unbedingt jüngere Kopien der ?Originale? sein müssen, und gerade die Besetzung von Ray Liotta ist eine augenzwinkernde Hommage an das Genre. Sowohl künstlerisch wie auch filmhandwerklich ist THE MANY SAINTS OF NEWARK ein außergewöhnlich gut gelungenes Prequel, das dem Niveau und der epischen Dimension der Serie mehr als gerecht wird.



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