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FBW-Bewertung: Gefangen im Netz (2020)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: GEFANGEN IM NETZ thematisiert in Form eines experimentellen Dokumentarfilms ein verbreitetes Problem unserer Gesellschaft: dem Umstand, dass viele Kinder und Jugendliche unkontrolliert von den Eltern einen Großteil ihrer Zeit im Internet verbringen. Dort kommt es häufig zu virtuellem sexuellem Missbrauch, was der Film nachdrücklich bestätigt. Die Mehrdeutigkeit des Titels GEFANGEN IM NETZ verweist bereits auf das Thema: In einem Studioversuchsaufbau werden drei erwachsene Schauspielerinnen, die erheblich jünger aussehen, als 12-13-Jährige situiert und antworten in konstruierten Kinderzimmern am Computer auf Anfragen von älteren Männern. Das Experiment beginnt bereits Minuten nach dem Anlegen der Profile auf bekannten Internetplattformen, denn umgehend melden sich Nutzer mit Kontaktanfragen? auch Männer mittleren Alters. Der komplexe Versuchsaufbau bemüht sich um eine möglichst authentische Grundsituation, die ein ungehemmtes Verhalten der potenziellen Missbrauchstäter ermöglicht. Der Film macht dabei die Kommunikationsmuster deutlich und diskutiert sie in Ansätzen sexualpsychologisch .
Die Radikalität der dokumentierten Gespräche und die Konsequenz der Darstellerinnen ermöglichen einen intimen und verstörenden Einblick in die verborgene Welt sexueller Übergriffe. In den Gesprächen werden feste Muster, aber auch individuelle Bedürfnisse deutlich, die ein mitunter differenziertes Bild derBelästiger ermöglichen. Das wird auf der nächsten Stufe, den persönlichen Treffen im zweiten Teil des Films, noch deutlicher. Hier wird teilweise die kriminelle Energie der Täter spürbar, sowie auch deren Uneinsichtigkeit, da die Männer sich als gewöhnlicher Teil der Gesellschaft zu begreifen scheinen. Sie sehen ihre Taten nicht als Übergriffe, sondern als virtuelles Spiel.
Die Jury diskutierte den Film intensiv. Kontrovers wurde die?Fallenstellrhetorik? des Versuchsaufbaus und die Simulationskraft des Webcam-Setups besprochen. Dabei wurde positiv bemerkt, dass die Inszenierung den mitschwingenden Voyeurismus selbst diskursiviert. Auf diese Weise bietet der Film ein Ambivalenzerlebnis und setzt das systemische Problem gegenden pathologischen Einzelfall, wobei allerdings einfache Erklärungen vermieden werden. Die digitale Maskierung der Täter als ästhetisches Mittel wurde ebenso zwiespältig empfunden, doch funktioniert dieses Stilmittel im Kontext zweifellos. Eine wesentliche Frage war, ob der Film selbst Straftaten tendenziell fördere. Wo ist die Grenze? Doch auch hier kam die Jury zur Entscheidung, dass eben jene Frage auf sehr sinnvolle und produktive Weise an das Publikum zurückgegeben wird.
Es kommt der konsequenten Versuchsanordnung zugute, dass der Film einenüberzeugenden und schockierenden Einblick in die dunkle Seite des Internets bietet. Er ist daher als Aufklärung für Eltern und Erzieher*innen gut geeignet. Zugleich ermöglicht er einen psychologischen Blick auf die Täter, die auch vor Erpressung nicht zurückschrecken. Die der Jury vorliegendeFassung bietet einige intensive Momente und wird im Kinoeinsatz funktionieren, während sich die eher auf den informativen Aspekt reduzierte kürzere Fassung für den aufklärenden Schuleinsatz anbietet. In sorgfältiger Abwägung aller Überlegungen und Argumentationen verleiht die Jury dem Film das Prädikat ?besonders wertvoll?.



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