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FBW-Bewertung: Das Ereignis (2021)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Obwohl er zu Beginn der 60er Jahre spielt, ist Audrey Diwans DAS EREIGNIS ein absolut gegenwärtiger Film. Das betrifft nicht nur sein Thema, sondern vor allem die Art und Weise, in der die Regisseurin es angeht. Der Film beruht auf einer autofiktionalen Erzählung der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux, die darin die Erfahrung einer illegalen Abtreibung im Frankreich der frühen 1960er Jahre schildert. Anamaria Vartolomei spielt Anne, eine junge Studentin in der Provinzstadt Angoulême, die sich aus einer einfachen Herkunft heraus die Möglichkeit eines Hochschulstudiums erarbeitet hat. Die ungewollte Schwangerschaft droht all ihre Lebenspläne und das bisher Erreichte zunichte zu machen. Der Film heftet sich gleichsam an die Fersen von Anne, während sie von Station zu Station läuft auf der Suche nach einer "Lösung". Abtreibungen waren damals in Frankreich nicht nur verboten ? sie waren auch so stark tabuisiert, dass im ganzen Film kein einziges Mal das Wort fällt.

Diwans Film beeindruckt durch die Intensität, mit der er die Notlage Annes schildert, ohne dabei je pathetisch oder sentimental zu werden. Mit seiner quasi-dokumentarischen Herangehensweise fächert er zugleich die verschiedenen Haltungen in der damaligen Gesellschaft auf: die vorgebliche Unschuld von Anns Mitbewohnerinnen, die ihrer wohlmeinenden Freunde, die aber die Verantwortung scheuen, die der teils kaltblütigen Menschen, die aus ihrer Notlage Profit schlagen. Wobei es der Regisseurin gelingt, stets genau im Blick zu behalten, dass es hier um das Erleben einer Frau geht, um ihre Sichtweise, ihre Gefühle und Erfahrungen.

Mit seiner recht bündigen Dauer von 100 Minuten entwickelt der Film eine spannende, sich steigernde Wucht, die seinem Anliegen große Wirkung verleiht. Der Film führt exzellent vor Augen, dass die Zeiten des absoluten Abtreibungsverbots und damit der Praxis illegaler und deshalb hochriskanter Abbrüche noch nicht sehr lange her sind. Dazu trägt bei, dass Anne als Figur den modernen Frauenfiguren von heute sehr nahe steht: Sie ist keine Frau, die ihre Weiblichkeit herauskehrt, sondern eine selbstbewusste Studentin, die ihr Studium ernst nimmt und die, von einem starken Wunsch nach Selbstbestimmung getrieben, auch ihre sexuellen Erfahrungen danach ausrichtet.

Die Jury bewunderte ausdrücklich die effektive und ökonomische Erzählweise, in der jede Sequenz ihre Funktion hat und jede Nacktszene inhaltlich und nicht voyeuristisch begründet scheint. Sämtliche formalen Elemente greifen stimmig ineinander: der Handkamera-Stil und das 4:3-Format, die Kostüme und Frisuren, das Provinz-Setting in Angoulême ? nichts davon ist ausgestellt oder übertrieben aufwändig, alles kommt zur subjektiv geprägten Erzählung von Anne zusammen, deren reale Lebenswelt ? sie trägt eben die immer gleichen vier Blusen ? geschildert wird. Ohne sie mit Gefühlen zu überfrachten, macht der Film ihr Verhalten sehr nachvollziehbar. Man begreift und versteht ihre Entscheidung, und respektiert sie.



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