oder

FBW-Bewertung: Final Account (2020)

Prädikat besonders wertvoll

Jurybegründung: Kaum ein Teil der jüngeren Geschichte scheint dokumentarisch so extensiv aufgearbeitet worden zu sein wie die NS-Diktatur. Filme über die von Nationalsozialisten an Juden verübten Gräueltaten gibt es reichlich und dennoch kann nicht genug über die Shoah berichtet werden. Die meisten der noch lebenden Täter bevorzugen bei Gerichtsprozessen noch immer die Antwort: ?Davon habe ich nicht gewusst?, wenn es um die Frage ihrer Mitschuld geht. Immerhin hat eben diese Antwort mehr als 70 Jahre im deutschen Justizwesen Bestand gehabt. Der Filmemacher, Regisseur und Produzent Luke Holland scheint dies zum Anlass für eine rund zehn Jahre dauernde Kamerarecherche genommen zu haben, während der er Opfer, Zivilisten, aber auch Lagermitarbeiter und frühere SS-Männer interviewt und nach ihrer Einschätzung der Verbrechen der Nazis gefragt hat.

Interessanterweise zeigt FINAL ACCOUNT keine (oder fast keine) Finsterlinge. FINAL ACCOUNT blickt auf ganz normale Menschen, Menschen, die zu Beginn des zweiten Weltkriegs mitunter keine 18 Jahre alt waren. Mitglieder nationalsozialistischer Jugendorganisationen, die das Leben im nationalsozialistischen Deutschland wie auch den Lageralltag auf die eine oder andere Weise erfahren haben. Mehr als 300 Interviews haben Luke Holland und sein Team ausgewertet. Interviews, die ganz allmählich das Porträt einer Generation widerspiegeln. Trotz der Vielzahl an Geprächen, Bildern, Fakten und Informationen gelingt FINAL ACCOUNT die Präsentation mühelos. Wohl gewählte wie selten gezeigte Filme und Fotos bezeugen die zahlreichen textuellen Bezüge. Trotz der gewaltigen Informationsfülle erschlägt der Film nicht. Im Gegenteil: Von der formalen Seite zeigt sich FINAL ACCOUNT klar gegliedert und beinahe schon unorthodox modern.

Immer wieder stellt Holland heraus, wie effektiv und überzeugend die nationalsozialistische Propagandamaschine gewirkt hat und in einigen Fällen heute noch zu wirken scheint. Er zeigt die große Verführungskraft der Versprechungen der Nazis, er zeigt die Ausstrahlung von Hitlerjugend, Bund deutscher Mädel und Jungvolk, er zeigt aber auch das böse Erwachen, als aus Spiel Ernst wird und Jugendliche sich mit Vernichtungslagern konfrontiert sahen. Immer enger fokussiert der Film von allgemeinen Beschreibungen des damaligen Lebens auf persönlichere Erfahrungen und schließlich auf die Frage nach dem Empfinden einer Täterschaft. Dass Demagogen und Diktatoren nichts ohne ihre Anhängerschaft sind, das ist sattsam bekannt, aber tatsächlich scheint das Wichtigste, das für den Triumph des Bösen notwendig ist, zu sein, dass gute Menschen einfach nichts tun. In diesem Sinne interessant wird der Film, wenn sich die noch heute Lebenden letztlich mit der Frage nach ihrer Schuld konfrontiert sehen, respektive der Frage danach, warum sie sich diesem System nicht verweigert haben.

Man mag Hollands Film vorhalten, er liefere lediglich eine zuschauerfreundliche Fassung von Claude Lanzmanns Shoah, aber diesen Vorwurf können sowohl das Hier und Jetzt wie auch der Film selbst locker entkräften. So überrascht FINAL ACCOUNT nach ungefähr 2/3 Lauflänge mit dem Ausschnitt eines Gesprächs in der heutigen Gedenk- und Bildungsstätte Wannsee. Berliner Jugendliche haben dort mit einem damaligen SS-Mann diskutiert. Anders aber als erwartet zeichnet sich ab, dass die Berliner Jugendlichen weder einen Begriff für die Macht der Propaganda, noch Verständnis für das Schuldeingeständnis des früheren SS-Soldaten haben. Auf der anderen Seite zeigt Holland aber auch jene, die sich fast 80 Jahre nach Kriegsende noch immer weigern anzuerkennen, dass in der Shoah 6 Millionen Menschen umgebracht wurden. Jene, die stolz auf ihre Orden und ihre Zugehörigkeit zur damaligen SS sind.

Die Jury zeigte sich von der Vielschichtigkeit des Films so beeindruckt, dass sie ihm nach ausführlicher Diskussion gerne das Prädikat ?besonders wertvoll? verleiht.



Spielfilm.de-Mitglied werden oder einloggen.