FBW-Bewertung: Die Vorkosterinnen (2025)
Prädikat wertvoll
Jurybegründung: Auch über 50 Jahre nach dem Ende des Hitlerregimes gibt es noch neue Berichte über das Leiden der Menschen unter dieser Schreckensherrschaft und die Perfidie des faschistischen Systems. So erzählte Margot Woelk im Jahr 2012 im Alter von 95 Jahren davon, dass sie zusammen mit einer Gruppe von jungen deutschen Frauen in den frühen 1940er Jahren die Speisen vorkosten musste, die in der Wolfschanze für Adolf Hitler zubereitet wurden. Die Italienerin Rosella Postorino veröffentlichte im Jahr 2018 den Roman ?Die Vorkosterinnen?, der auf dieser vermeintlich wahren Geschichte beruht. Dies ist der Grund dafür, warum der italienisch/schweizerische Regisseur Silvio Soldini diese literarische Vorlage unter dem gleichen Titel als eine italienische Produktion inszenierte. Und obwohl der gesamte Film in Bozen in Südtirol gedreht wurde, ist er so aufwendig und sorgfältig ausgestattet, und die Darsteller agieren sowie sprechen (von wenigen Sprachfärbungen abgesehen) so überzeugend, dass die Verortung der Geschichte im Ostpreußen der 1940er Jahre überzeugend gelingt. Erzählt wird die Geschichte konsequent aus der Perspektive der Protagonistin Rosa Bauer. Und Elisa Schlott, die in jeder Einstellung zu sehen ist, trägt den Film, weil es ihr gelingt, durch ihre einfühlsame und sensible Darstellung, diese Filmfigur sehr plastisch und komplex lebendig werden zu lassen. Durch diesen Blickwinkel bleibt vieles ungezeigt und ungesagt. So ist von dem Attentat auf Adolf Hitler im Jahr 1944 nur die Explosion zu hören und der SS-Kommandant Albert Ziegler, mit dem Rosa Bauer eine Liebesbeziehung beginnt (Max Riemelt spielt ihn als eine Figur voller Widersprüche zwischen Arroganz und Verletzlichkeit), spricht in einer intimen Szene von den schrecklichen Taten, die er begangen hat. Anders als Rosa kann das Publikum mit dem Wissen um Stauffenbergs gescheitertes Sprengstoffattentat und den Holocaust genau erkennen, was hier indirekt erzählt wird, ohne dass dadurch die streng subjektive Erzählform verlassen wird. So bleibt der Film immer nah bei Rosa Bauer und ihren Schicksalsgenossinnen. Soldini zeigt ihre Angst, ihre Verzweiflung und die kalte, gnadenlose Effizienz, mit der die Soldaten sie bewachen und dazu zwingen, ihre Aufgabe als menschliche Versuchskaninchen auszuführen. Mit 123 Minuten erscheint der Film der Jury jedoch gerade im Mittelteil ein wenig zu lang. Und wenn im dramatischen Finale Rosa Bauer zu einer mutigen Heldin wird, die alles versucht, um einer jüdischen Freundin bei deren Flucht zu helfen, kippt der Film in die Kolportage des literarischen Bestsellers und verliert dadurch, so die Ansicht der Jury, an Glaubwürdigkeit. Am stärksten sind Silvio Soldini und das gut gecastete Schauspieler*innen-Ensemble dagegen immer dann, wenn sie zeigen, wie diese Gruppe von Menschen in ihrer Zwangsgemeinschaft zusammenleben. Eine weitere Stärke des Films sieht die Jury auch darin, dass die Bewacher der Frauen nicht als Nazikarikaturen gezeichnet werden, sondern als Männer, die durch ihre Abrichtung in einem toxischen System ihre Menschlichkeit verloren haben.Im Anschluss an eine ausführliche Diskussion und in Abwägung aller dargebrachten Argumente verleiht die FBW-Jury dem Film gerne das Prädikat ?wertvoll?.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)