FBW-Bewertung: The Life of Chuck (2024)
Prädikat besonders wertvoll
Jurybegründung: So kurz und prägnant sie sind, Kurzgeschichten sind ideale Vorlagen für Filme. Mike Flanagan, der für Filme mit Gänsehaut-Effekt steht, hat sich kurzentschlossen Stevens Kings 2020 erschienene Kurzgeschichte ?Chucks Leben? geschnappt und mit THE LIFE OF CHUCK eine geniale Verfilmung geschaffen. Aber so sehr auch diese Kombination auf Horror hinzuweisen scheint, THE LIFE OF CHUCK ist eine sanft-bewegende Geschichte über Leben und Tod, mit mehr, als einem Hauch von Philosophie und einer Prise des Fantastischen.Solipsismus heißt die philosophische Position, nach der eigentlich nur die Existenz des eigenen Ichs als gesichert gelten kann und dass es deswegen keine Gewissheit geben kann, dass die Welt, die wir wahrzunehmen meinen, nicht nur in unserem individuellen Denken existiert. Filme, wie ?Vanilla Sky?, bzw. ?Abre los ojos? oder entfernt auch ?Inception? oder ?Memento? nutzen diese Denkfigur und dass Steven King mit diesem Leitgedanken arbeitet, sollte auch nicht verwundern. THE LIFE OF CHUCK erzählt ebenfalls eine solche, introspektive Geschichte, doch das wird dem Publikum erst nach einer ganzen Weile bewusst.
Stutzig werden könnte es allerdings schon eher, denn Flanagan folgt der Buchvorlage und hat die Story in drei Kapitel aufgeteilt. Flanagan, wie auch King erzählen dabei reziprok. Sie lassen die Story mit Kapitel 3 beginnen und enden bei 1 und nur ganz allmählich entfaltet sich dabei der ganze Kosmos ihrer Erzähltechnik. Dabei macht THE LIFE OF CHUCK das, was im Film eigentlich schwierig ist, die Geschichte verlagert den Standpunkt. In Kapitel 3 ist es Lehrer Marty und seine Ex-Freundin Felicia, die sich mit dem nahenden Ende der Welt befassen müssen. Kalifornien rutscht Stück um Stück in den Pazifik, Erdbeben werden aus allen Teilen der Welt berichtet und sogar in Deutschland bricht ein Vulkan aus. Zudem scheinen überall merkwürdige Plakate aus dem Nichts zu entstehen, die den Menschen verkünden: ?39 großartige Jahre! Danke Chuck!? Flanagan inszeniert nicht etwa apokalyptische Momente, nein, er ist wesentlich feinsinniger. Er konzentriert sich auf die ganz subtilen Erfahrungen seiner Protagonisten, auf ihre Gefühle angesichts eines nahen Endes der Welt. Sein Schauder ist zart und, wenn man so will, feinperlig und nicht so eruptiv und laut, wie es das Publikum meint, von ihm zu kennen. Flanagan setzt nicht auf große Erklärungen. Sein Film funktioniert auf emotionaler Ebene. Das gilt auch für das 2. Kapitel, das einige Monate zuvor einsetzt.
Flanagan macht das Publikum hier mit dem titelgebenden Charakter vertraut. Chuck ist Buchhalter. Auf den ersten Blick ein Langweiler, jenseits der 30. Während einer Fortbildung bemerkt er eine Straßenmusikerin am Straßenrand und legt mit einem Mal eine Tanzperformance hin, die sich gewaschen hat. Das ist skurril und bisweilen komisch und vor allem hervorragend choreographiert. Viel später erst erfährt das Publikum, dass Chuck, die trübe Tasse aus der Bank, in seiner Kindheit Tanzunterricht genossen hat. Nichts deutet auf ein nahes Ende er Welt hin, im Gegenteil, Flanagan entlässt sein Publikum für kurze Zeit in ein LA LA LAND, eine Kleinstadtwelt, die mit jeder Faser auszusprechen scheint, dass hier alles möglich ist. Aber so sonnig und heiter das Kapitel auch erscheint, das Publikum sollte im Hinterkopf haben, dass es eine Stephen King Verfilmung anschaut.
Dialoge spielen in THE LIFE OF CHUCK eine wichtige Rolle, sie treiben die Geschichte(n) voran. Der Film fordert zum Zuhören auf, auch wenn das manchmal dem Gefühl entgegensteht, einfach dem Charme der Story und ihrer Bilder erliegen zu wollen. Noch deutlicher wird das im letzten Kapitel, also in Kapitel 1, das das Publikum in die Kindheit von Chuck entführt und vor allem den Schlüssel für all das bereitstellt, was in dessen Zukunft passieren soll.
THE LIFE OF CHUCK ist vieles. THE LIFE OF CHUCK ist ein Science Fiction, ein Liebes- und ein Tanzfilm, eine etwas traurige Lovestory und auch ein Katastrophenfilm. Eines aber ist THE LIFE OF CHUCK auf jeden Fall nicht, so sehr man es beim Namen Stephen King auch erwartet hätte: ein Horrorfilm THE LIFE OF CHUCK ist ein poetisches Puzzle des Lebens, das sich für das Publikum allmählich zusammensetzt. Dabei ist die Rückwärtsbewegung durch die Kapitel dramaturgisch wohldurchdacht: In dem Maße, in dem die Story aufgeheitert wird, trübt das Wissen um das, was noch kommen soll, die wohl gestimmten Empfindungen.
So gut die Vorlage auch sein mag, eine solche Geschichte verlangt nach einem erstklassigen Drehbuch, einer mindestens genauso guten Regie und einem herausragenden Schnitt. Mike Flanagan hat die Sache einfach selber in die Hand genommen und aus der Buchvorlage ein filmisches Werk entstehen lassen, das sicherlich noch diverse Preise gewinnen wird. Aber auch die Leistungen aller Darsteller möchte die Jury hervorheben, allen voran Tom Hiddleston, als erwachsener Chuck Krantz und Chiwetel Ejiofor, als Lehrer Marty, die ihr Publikum mit großer Selbstverständlichkeit an die Hand nehmen und durch ihre Welt führen. THE LIFE OF CHUCK ermutigt, auch die kleinen Dinge des Lebens wahrzunehmen und zeigt, dass sich die Welt, wie wir sie wahrnehmen, aus einer Vielzahl von Menschen, Erinnerungen und Empfindungen zusammensetzt, oder wie es Chucks Grundschullehrerin sagt: ?Mit jedem Jahr, dass du lebst, wird deine Welt größer und heller und immer vielschichtiger und vollständiger.?
Ganz offensichtlich, THE LIFE OF CHUCK hat der Jury in allen Belangen so sehr gefallen, dass sie gar nicht anders konnte, als dem Film einstimmig das Prädikat besonders wertvoll auszusprechen.
Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)