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Ronald Zehrfeld in 'Zwischen Welten',...2014
Ronald Zehrfeld in 'Zwischen Welten', Berlinale-Wettbewerb 2014
© Wolfgang Ennenbach Independent Artists Filmproduktion

Berlinale 2014 - Tag 6

Soldaten, Mörder, Aussteiger und Ex-Junkies

Halbzeit bei der Berlinale 2014! Die sich bisher als ziemlicher Publikumsrenner erwiesen hat: Mehr als 260.000 Tickets wurden bereits verkauft. Der sechste Tag der Berlinale wartete außerdem mit zwei Highlights im Wettbewerb auf.

Da wäre zunächst die deutsche Produktion Zwischen Welten von Feo Aladag, die eine deutsche ISAF-Einsatzgruppe in Afghanistan zeigt. Für den Truppenkommandanten Jesper (Ronald Zehrfeld) ist es bereits der zweite Einsatz in diesem Land. Er kam zurück, obwohl sein Bruder beim ersten Mal gefallen war. Der junge Afghane Tarik fungiert für die Truppe als Übersetzer. Sowohl Hesper, als auch Tarik haben mit starken Konflikten zu kämpfen, was ihre jeweiligen Mentalitäten und Loyalitäten betrifft. Irgendwann spitzt sich die Lage lebensbedrohlich zu.
Dies ist ein sehr starker deutscher Wettbewerbsbeitrag, der klare Chancen auf einen Preis hat. Der Film zeigt zum einen die verfahrende Situation vor Ort und zum anderen, dass sich tiefsitzende Konflikte nicht schnell allein mit Waffengewalt lösen lassen. Dafür gab es kräftigen Applaus und sogar Jubelrufe vom Publikum.

Der griechische Wettbewerbsbeitrag "To mikro psari" von Yannis Economides ist ein sehr düsteres Thriller-Drama, welches recht lange braucht, um richtig in Fahrt zu kommen. Stratos ist ein Killer, der nach seiner Gefängnisentlassung eigentlich nicht mehr viel Lust auf diese Tätigkeit hat. Er lebt von der nächtlichen Arbeit in einer Brotfabrik. Tagsüber tötet er nur noch, um das Geld für den Ausbruch seines ehemaligen Zellengenossen zu sparen, der ihm einst das Leben gerettet hat.
Lange Zeit über besteht der Film fast nur aus ausgedehnten Dialogen, welche immerhin die höchste Dichte an Schimpfwörtern und Vulgärsprache der gesamten Berlinale haben dürften. Stratos hört zumeist nur ruhig zu. Aber sobald die Zeit zu handeln kommt, ist er eiskalt. Der Film ist ein sehr bitterer Kommentar zu einer zynischen griechischen Gesellschaft, der mit der Wirtschaftskrise auch die letzten Werte abhanden gekommen sind. Bei dem extrem langen Anfang haben einige Besucher den Saal verlassen. Die, die geblieben sind haben am Ende umso lauter applaudiert.

Enttäuschend war dagegen die brasilianisch-deutsche Produktion Futuro Beach, vom in Berlin lebenden brasilianischen Regisseur Karim Aïnouz. Dabei fängt es vielversprechend und mit wuchtigen Bildern an: Der Rettungsschwimmer Donato (Wagner Moura) rettet am titelgebenden Strand den ertrinkenden deutschen Touristen Konrad (Clemens Schick). Dessen besten Freund kann er jedoch nicht aus dem tosenden Meer befreien.
Nach der Abwicklung der Formalitäten haben die beiden unvermittelt Sex. Schließlich folgt Donato Konrad nach Berlin. Dort verfolgt man die beiden bei einer vagen Beziehung und einem noch schwammigerem Kulturclash. Dann sind mal eben sieben Jahre vergangen, Donatos Teenage-Bruder Ayrton taucht unvermittelt auf und bricht einen Familienkonflikt vom Zaun, der dann das letzte Drittel beherrscht... Auf der Pressekonferenz behauptete Moura, der Film sein "nicht nur ein Liebesfilm", sondern habe auch "politische Dimensionen". Sorry, Moura - ein paar Sex- und Nacktszenen reichen nicht für eine Liebesgeschichte. Wenige nichtssagende Dialoge auch nicht. Von Politik keine Spur. Unterm Strich ist "Praia" ein oberflächlicher und deutlich selbstverliebter Film mit magerer Handlung und blassen Charakteren. Und: Frauen kommen nur in etwa drei Minuten vor.

The Galapagos Affair: Satan Came to Eden: Diese ungewöhnliche US-Dokumentation lief in der Reihe Berlinale Special. Der Film handelt von den ersten drei Familien bzw. Kleingruppen, die ab 1929 auf die zu diesem Zeitpunkt noch vollkommen von Menschen unbewohnte Galapagosinsel Floreana gezogen sind. Anhand von Archivmaterial, zu dem erstaunlicherweise auch viele alte Filmaufnahmen gehören, plus Interviews von Nachkommen der Bewohner der damaligen Zeit, wird das Leben dieser Abenteurer rekonstruiert. Irgendwann verschwinden zwei von ihnen bis heute spurlos. Alle Indizien scheinen auf einen Mord hinzudeuten, der ebenfalls soweit wie möglich versucht wird, aufzuklären. Darüber hinaus behandelt der Film aber auch allgemeinere Fragen zum Inseldasein: Was für ein Menschenschlag ist das, den es an solche einsamen Orte treibt? Haben sie dort wirklich das gesuchte Paradies gefunden? Wie ist es, als Kind solcher Aussteiger auf einer einsamen Inssel aufzuwachsen? Der sehr ungewöhnliche und gut gemachte Beitrag, der höchstens eine Spur zu lang war, wurde ebenfalls mit Applaus bedacht.

20.000 Tage ist er schon alt - nicht schlecht für einen langjährigen Junkie mit hagerem Körperbau: 20.000 Days on Earth zeigt als Pseudo-Doku den (fiktiven) 20.000sten Erdentag von Nick Cave, der auch als Erzähler auftritt. Der spannende, obwohl entspannt erzählte Panorama Dokumente-Beitrag webt ein dichtes, poetisches und überraschend selbstironisch-witziges Bild der Indie-Ikone, welche gewöhnlich ein düsteres Image pflegt. Wir begleiten Nick vom Weckerklingeln um 7 zum morgendlichen Schreiben - auf einer altmodischen Schreibmaschine - dann zur Sitzung bei einem unecht erscheinenden Therapeuten (ein Schauspieler?), dem er seine erste sexuelle Erfahrung und seine Lieblingskindheitserinnerungen aus dem ländlichen Australien mitteilt. Zwischendurch sieht man ihn immer mal wieder hinterm Steuer seines schwarzen Jaguars durch seine anscheinend permanent verregnete Wahlheimat Brighton fahren, mit früheren Weggnossen als Beifahrer: Der Schauspieler Ray Winstone, Kylie Minogue und Blixa Bargeld - welcher ihm endlich verrät, warum er die Bad Seeds vor zehn Jahren verließ. Wie Cave in der Pressekonferenz zugab, hatte er tatsächlich keine Ahnung, was den "Einstürzende Neubauten"-Kopf seinerzeit zu seinem Ausstieg bewegte. Außerdem darf man dem Star bei seiner Arbeit für das Album "Push The Sky Away" und beim Pizzaessen mit seinen jungen Zwillingssöhnen zusehen. Insgesamt eine kurzweilige Doku, hoffentlich nicht nur für Fans.

Erstaunlich lustig ist The Kidnapping of Michel Houellebecq, der in der Sektion Forum lief. 2011 verschwand der französische Autor Michel Houellebecq während einer Lesereise zur Promo seines neuen Romans "Karte und Gebiet" spurlos und löste damit allerlei wilde Spekulationen aus. Regisseur Guillaume Nicloux liefert nun in seiner im dokumentarischen Stil mit Handkamera gedrehten, sehenswerten Krimikomödie "L'enlèvement de Michel Houellebecq" eine ganz eigene Erklärung: Wir sehen, wie der Autor auf Geheiß eines mysteriösen Unbekannten von Bodybuildern in ein Haus irgendwo im ländlichen Frankreich entführt wird, wo er mit seinen überraschend zuvorkommenden Entführern einige entspannte Tage mit Wein, Weib, Nikotin, Gesprächen und kleinen Einführungen in Bodybuilding, Freefight und Selbstverteidigung verbringt. Die Situation an sich ist schon absurd, die Dialoge zwischen den Entführern und ihrem "Opfer" setzten dem ganzen aber noch die Krone auf, zumal der sich selbst spielende Houellebecq sich wunderbar selbst karikiert.

Someone You Love - im Original "En du Elsker" - von Pernille Fischer Christensen, mit Mikael Persbrandt und dem diesjährigen Jury-Mitglied Trine Dyrholm in den Hauptrollen, ist ein Drama um einen prominenten Sänger, der aus seiner Wahlheimat L.A. für die Produktion einer neuen Platte nach Dänemark kommt. Nach jahrzehntelanger Alkohol- und Drogensucht kann er auf sechs drogenfreie Jahre zurückblicken. Bei einem Treffen mit seiner entfremdeten Tochter wird er nun mit deren Drogensucht konfrontiert - und mit einem Enkel, von dem er nichts wusste, den er aber bei sich aufnehmen muss, während sie einen Entzug beginnt. Die Musik ist nicht schlecht und auch die Schauspieler sind gut, aber insgesamt ist der Film doch etwas melodramatisch und weinerlich geraten. Kann man (in der Sektion Berlinale Special) sehen - muss man nicht.

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